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Offenlegung & Urheberrechte: Bildrechte bei Anke Ernst.
Von Anke Ernst (Mehr) • Zuletzt aktualisiert am 08.09.2023 • Zuerst veröffentlicht am 09.09.2012 • Bisher 5856 Leser, 1792 Social-Media-Shares Likes & Reviews (5/5) • Kommentare lesen & schreiben
Kris stammt aus Texas, einem der konservativsten Staaten der USA. Trotzdem hält er nicht an festgefahrenen Traditionen fest, sondern sieht das Leben als spannende Reise, die immer wieder Impulse in neue Richtungen gibt. Karriereplanung macht für ihn nur bedingt Sinn.
Den 32Jährigen traf ich vor fünf Monaten in San Francisco. Schon damals diskutierten wir intensiv über verschiedene Lebensmodelle. Der anschließende Emailkontakt überzeugt mich:
Kris ist jemand, der immer wieder von vorne anfangen musste und trotzdem seine Ideale nicht verloren hat. Sein Portrait ist ein guter Abschluss meiner Weltreiseinterviews.
Kris schreibt mir: „Du wirst niemals jemanden sagen hören: ‚Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit im Büro verbracht.‘ Sie sagen immer: ‚Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit meinen Liebsten verbracht.’“
Mit letzterem wartet Kris nicht bis zum Lebensende – die harte Schule seiner Jugend, bisher die schmerzhafteste Zeit seines Lebens, hat ihn gelehrt, wie wichtig familiärer Zusammenhalt und tiefe Beziehungen zu den Mitmenschen sind.
Von seinen Eltern lernte er, mit dem Wenigsten zu überleben. Als Ältester von fünf Geschwistern zog er mit der jungen Familie unter ärmlichen Bedingungen durch die USA. Als er acht war ließ sich die Großfamilie in Idaho nieder und bezog einen kleinen Zweizimmer-Wohnwagen.
Nach sechs Jahren hatten sie genug: Der abenteuerlustige Vater verkaufte den Trailer, kaufte Land und baute eigenhändig ein Haus darauf. Das Geld reichte nur für den Rohbau, nach einem Jahr erst hatten sie Strom, nach drei Jahren Rohrleitungen.
Während Kris sich in seiner Jungend von seinen Eltern distanzierte und zu einem Problemkind wurde, so dass er sogar von der Schule gehen und Privatunterricht nehmen musste, folge er als junger Erwachsener dem Beispiel seines Vaters und baute sein eigenes Haus.
Die körperlich anstrengende Arbeit auf dem Bau glich er mit einem Theologiestudium aus. Ein Freund hatte ihn mit „hot chicks“ in die Kirche gelockt. Die Frauen kamen und gingen, aber der Wunsch, die Wahrheit zu erkennen, und Menschen zu helfen, blieb.
Eines Tages wurde in sein Haus eingebrochen und Kris fand heraus, dass die Diebe metamphetaminabhängige Jugendliche gewesen waren. Die Polizei sagte ihm, dass da wenig zu machen sei, doch er entschied sich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Er gründete die Nonprofit-Organisation „Operation Kill Boredom“ (OKB,, die er drei Jahre lang leitete. Kris geht davon aus, dass Jugendkriminalität und Drogenmissbrauch auf mangelnde Unterhaltungs- und Fördermöglichkeiten zurückzuführen sind.
Die Jugendlichen hätten zu viel Zeit und zu wenig Geld und keine Transportmittel (in den USA ist das Auto meist das einzig verfügbare), diese sinnvoll und produktiv auszufüllen.
OKB organisiert beispielsweise kostenfreie Konzerte, Filmproduktionen, in denen die Jugendlichen schauspielern, Drehbuch schreiben und Regie führen können sowoe Kostümparties. Kris scheint der Inbegriff des American Way of Life: Vom Tellerwäscher zum Millionär, um dann doch mit viel Optimismus freiwillig immer wieder neue Ziele zu suchen.
Mit 29 Jahren merkte Kris allerdings, dass er trotz vieler Reisen und eines spannenden Lebenswandels noch einmal von vorne anfangen wollte. Für ein ruhiges Leben als Familienvater war er noch nicht bereit. Er kündigte seine Arbeitsstelle, vermietete sein Haus und übergab die Leitung seiner Organisation an einen Nachfolger.
Dann nahm er eine Stelle in Portland an. Ein Jahr später erwischte die Finanzkrise seinen neuen Arbeitgeber und Kris ging freiwillig, um die Stelle eines Familienvaters zu sichern. Ein mutiger Entschluss, denn auch seine Ersparnisse waren beträchtlich durch die Krise geschrumpft.
Jetzt studiert Kris wieder und arbeitet gleichzeitig im Vertrieb einer als besonders arbeitgeberfreundlich ausgezeichneten amerikanischen Versandhauskette. Mit dem Bachelor für Finanzwirtschaft will er sicherstellen, dass er seinen Job solange behält, bis er genug Lebenserfahrung gesammelt hat, um Life Coach zu werden. Er möchte anderen dabei helfen, ihren Weg zu finden.
Hat er jetzt schon einen Tipp für Arbeitssuchende? „Es ist nie zu spät, um einen neuen Weg zu gehen, am besten einen eigenen, der noch nicht begangen wurde. Lies mal Ralph Waldo Emerson und David Thoreau wenn Du es noch nicht getan hast.“
Und wie verhalte ich mich am besten beim Vorstellungsgespräch? „Meinen Job habe ich bekommen, weil ich, statt mich auf mich selbst zu konzentrieren, im Vorstellungsgespräch dargelegt habe, was ich dem Unternehmen bieten kann und welche konkreten Vorteile sie von meiner Einstellung haben werden,“ rät Kris.
Die beruflichen Ziele von Kris sind ebenso wandelbar wie seine sonstige Zukunftspläne.
Im Moment freut er sich am meisten darauf, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Mit ihr möchte er für mindestens ein Jahr in einem Land außerhalb der USA wohnen und auch sonst viel reisen und Erinnerungen sammeln, von denen er auch im Alter zehren kann.
Außerdem möchte er weiter Kampfkunst betreiben, ein Sport, den er seit seiner Jugend ausübt, ein Buch schreiben, in einer Serie oder einem Film mitspielen und herausfinden, warum er auf dieser Erde ist.
Kurz: Kris will das Leben völlig ausschöpfen und möglichst viele unbekannte Wege beschreiten.
Kris Geschichte klingt für mich wie der berühmte American Dream. Einige Male schafft er es fast vom Tellerwäscher bis zum Millionär und beginnt, oft freiwillig, wieder von vorne. Seinen Optimismus und sein Vertrauen in die Welt verliert er dabei nicht. Genau deshalb klingt seine Art zu leben überzeugend.
Kris rät unserer Generation: „Belügt Euch nicht selbst und konzentriert Euch auf die Reise statt auf das Ergebnis. Das Leben ist wie ein Tanz, den man währenddessen lernt. Macht Euch keine Sorgen, wenn Ihr Fehler macht.“
Für Deutsche mag dies sehr pathetisch und amerikanisch klingen, aber mir gefällt gerade die Idee, nicht zielorientiert zu leben, sondern das Leben genau im gegenwärtigen Moment wahrzunehmen.
Diese Lektion ist eine der Wichtigsten, die ich während meiner Reise gelernt habe. Wenn man zu viel in die Zukunft schaut, verpasst man zu viele Dinge am Wegesrand.
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Anke Ernst ist Chefredakteurin des Düsseldorfer Kunstmagazins INDEX und freiberufliche Journalistin für Reise, Kunst und Kultur.Sie wurde in Togo geboren, wuchs in Panama und Spanien auf, absolvierte einen Freiwilligendienst in Thailand als Tänzerin und Ballettlehrerin in Bangkok. Sie hat ein Magisterstudium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Spanischen und Französischen Philologie in Bonn und Paris absolviert und spricht fließend Deutsch, Spanisch, Französisch, Englisch und hat Grundkenntnisse in Griechisch, Russisch und Thai. Ihre bisherigen Arbeitgeber waren u.a. der Fernsehsender PHOENIX, das Sprachlernzentrum der Universität Bonn, die Oper Bonn und Deutsche Post DHL. Mehr Informationen unter www.anke-ernst.net/ Alle Texte von Anke Ernst.
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