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Angst vor dem Ersten Mal

Zum Glück hatte Laura einen Fensterplatz im Zug nach Frankfurt und es war schönes Herbstwetter. Die Sonne schien und die Natur präsentierte sich in bunten Farben. Laura saß gemütlich und entspannt in ihrem bequemen Sitz und schaute durchs Fenster. Draußen rauschte der Westerwald vorbei. Zum Glück hatte der Zug kein allzu schnelles Tempo drauf und so konnte sie sich am Anblick der rheinland-pfälzischen Landschaft erfreuen.

Laura lächelte und ein bisschen wurde es ihr warm ums Herz. Lange war sie nicht mehr hier gewesen, in ihrer Heimat. Aber sie fühlte sich gleich wieder in ihre Kindheit in Rheinland-Pfalz zurückversetzt. Vorne im Wagon ging die gläserne Türe auf und ein junger Zugbegleiter kam mit einem schmalen Rollwagen herein, um die Fahrgäste mit Speis und Trank zu versorgen. Denn heute muss sie zum ersten Mal einen Vortrag halten.

Hilfe, einen Vortrag halten

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„Kaffee?“, fragte der freundliche Mann in der obligatorischen dunkelblauen Uniform und der leuchtend roten Krawatte. „Nein danke!“, antwortete Laura. „Ich bin wach genug.“ Der junge Mann ging weiter, aber der Duft von frischem Kaffee blieb noch eine Weile in Lauras Bereich. Irgendwie roch das schon lecker, aber sie konnte jetzt wirklich nichts herunterbringen, denn ihre Nervosität stieg mit jedem Kilometer, mit dem sich der Zug der Hessenmetropole näherte. Laura hatte schon die ganze Nacht kein Auge zugemacht, so sehr beschäftigte sie ihr großer Auftritt.

Und den hatte sie die ganze Nacht vor ihrem geistigen Auge gehabt: Sie hatte sich auf der Bühne stehen sehen, vor dem Auditorium, das nur darauf wartete, sie mit Fragen zu bombardieren. Mit Fragen, die sie vielleicht nicht beantworten konnte, weil ja alles, was sie zum Thema liefern konnte, bereits auf den Folien des Vortrags stand.

Wie ein in die Enge getriebener Soldat

Sie hatte sich wie ein in die Enge getriebener Soldat gesehen, der bereits seine gesamte Munition verschossen hatte und dem Feind nun schutzlos ausgeliefert war. Ganz allein war sie da oben auf der Bühne gewesen, vor rund 600 Experten aus aller Welt, schwitzend, mit einem Frosch im Hals. Laura hatte buchstäblich schon ihre Schamesröte gefühlt und wie alle über sie hergefallen waren.

Diese Bilder hatten sich ständig vor ihrem geistigen Auge wiederholt und ihr jeglichen Schlaf geraubt. Laura hatte sich die ganze Nacht lang schweißgebadet hin und her gewälzt. Sie hatte einfach panische Angst davor, bei ihrem ersten Auftritt in der Fachcommunity ihr Gesicht zu verlieren. Als dann ihr Wecker am frühen Morgen geklingelt hatte, hatte er sie nicht etwa aus dem Schlaf gerissen. Nein, er hatte sie von diesem Film befreit, der die ganze Nacht vor ihrem geistigen Auge abgelaufen war. Viel besser ging es ihr auch jetzt nicht. Laura gab sich alle erdenkliche Mühe, ihren Zustand zu verstecken, denn selbst hier im Zug begann dieser lästige Film mit den vielen unschönen Bildern ihres Versagens zu laufen. Sie versuchte sich abzulenken, schaute immer wieder nach draußen in die schöne Landschaft. Aber das half alles nichts:

Lauras Hände waren feucht, auf ihrer Brust lag ein zentnerschwerer Stein. Und sie hatte das beklemmende Gefühl, dass alle anderen Mitreisenden hier im Abteil das mitbekamen. In jedem freundlichen Lächeln, das sie von jemandem erhaschte, der durch den Wagon lief, sah Laura eine abwertende Grimasse der Schadenfreude, manchmal gepaart mit ein bisschen Mitleid mit einem sicheren Verlierer, der chancenlos in die Schlacht zog.

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Angefangen hatte die ganze Misere mit einer eMail ihres Professors: „Beiliegend die Ausschreibung für eine interessante und wichtige Tagung. Da müssen wir unbedingt teilnehmen, um ein neues Thema für unser Institut in die Öffentlichkeit zu bringen. Bitte melden Sie sich an und tragen Sie vor.“ Laura hatte null Ahnung, was sie denn dort vortragen sollte. „Wir machen doch auf diesem Gebiet gar nichts“, hatte sie sich gedacht. Gut, es gab sicherlich ein paar Ideen für den ein oder anderen Forschungsauftrag, aber bisher noch keinerlei Ergebnisse. Wie sollte man darüber einen kompletten Vortrag halten? Und den auch noch gut?

„Weil wir eben noch nicht im Thema sind, müssen wir uns ja gerade öffentlich zeigen“, hatte Professor Cornelius leichthin zu ihr gesagt, als sie ihn auf sein Ansinnen angesprochen hatte. „Toll“, hatte Laura gebrummelt, „der hat leicht reden. Das ist doch gegen alle Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, wenn man so was macht.“ Das konnte sie ihm aber unmöglich sagen. Also hatte sich Laura hingesetzt und recherchiert. Sie hatte fleißig gearbeitet und tagelang an ihrem Vortrag gebastelt, mit dem sie aus der Not eine Tugend machen könnte. Sprich: Wie man die bestehenden Ergebnisse der Arbeitsgruppe für das neue Thema der Tagung nutzen konnte.

Wissenschaft oder Eigenwerbung?

Als Laura damit fertig gewesen war und ihren Vortrag mehrere Male gelesen und immer wieder korrigiert hatte, war ihr eines klargeworden: Das, was vor ihr lag, war eine Werbepräsentation für ihr Institut. So à la ‚Fünf-Minuten-Terrine’ von Maggi – ne tolle Idee! „Kaufen Sie: Ganz neu, ohne neuen Inhalt, aber dafür im Maxipack!“ Als Masterarbeit hätte Laura das nie im Leben abgegeben, das hätte sie sich nie getraut. Professor Cornelius hätte ihr das Ding um die Ohren gehauen. Dessen war sich Laura gewiss.

Als der Zug in Frankfurt am Main hielt und sie im vertrauten Bahnhof ausstieg, half ihr die Freude über ihre Ankunft in Frankfurt etwas dabei, sich abzulenken, und sie dachte schon, sie hätte ihre Nervosität im Griff. Als sie dann aber die nahe gelegene Messehalle betrat, beschleunigte ihr Puls schon wieder, die Feuchtigkeit an den Händen nahm zu und die Transpiration wurde so aktiv wie beim Indoor Cycling in ihrem Fitnesscenter. Kein Wunder: Die riesige Vortragshalle war proppenvoll.

Die Angst vor dem Publikum

Vor so vielen Leuten hatte Laura noch nie gesprochen. Vor allem nicht auf Englisch, das bei ihr in den letzten Jahren ohnehin ein wenig eingerostet war. Und dann musste sie auch noch eine Weile warten, bis sie an der Reihe war. Mit jedem ihrer Vorredner wurde es schlimmer. Als der Diskussionsleiter sie dann endlich ankündigte, lagen ihre Nerven endgültig blank. Wie in Trance stieg Laura die Treppe zur Bühne hinauf. Zum Glück blendeten die Scheinwerfer, denn so konnte sie die vielen Zuhörer nicht sehen, die gespannt auf ihren Vortrag warteten.

„Ladies and Gentlemen“, begann Laura ihre Rede. Wie durch ein Wunder verflüchtigte sich nach wenigen Minuten ihre Nervosität. Auch von Schauspielern weiß man, dass sich ihr Lampenfieber schnell legt, wenn sich der Vorhang erst einmal gehoben hat. Das Warten darauf ist das Schlimmste.

Am Ende des Lampenfiebers

So war es auch bei Laura. Ihr Englisch machte ebenfalls keinerlei Probleme, und sie spulte ihren Vortrag ziemlich professionell ab. Als Laura zwischendurch auf die Uhr sah, stellte sie fest, dass sie schneller vorgetragen hatte als zu Hause beim Üben. Deshalb wurde sie viel früher fertig als geplant. Das kleine bisschen Nervosität, das noch übrig war, verging vollends, als Laura tosenden Applaus bekam.

In diesem Moment fühlte sie sich frei, erleichtert und einfach großartig. Die vielen Zuhörer applaudierten begeistert! Nicht nur das! Da noch etwas Zeit war, erlaubte der Diskussionsleiter Fragen des Publikums. Die Experten fragten viel und Laura, jetzt überaus selbstbewusst und richtig gut drauf, genoss das sehr. Sie beantwortete alle Fragen höchst professionell und für die Zuhörer zufriedenstellend. „Vielen herzlichen Dank für diesen außerordentlich prägnanten Vortrag, Frau Schilberg“, lobte der Diskussionsleiter, als er Laura unter weiterem Applaus verabschiedete. „Wie Sie sehen, meine Damen und Herren, kann man mit einem kurzen und knackigen Vortrag viel Interesse wecken.“

Den Erfolg genießen

Laura genoss ihren Erfolg. Zu Recht! Als sie von der Bühne ging und sich auf ihren Stuhl in der ersten Reihe sinken ließ, fühlte sie sich unbeschreiblich gut. Einfach großartig! Die zentnerschwere Last von Nervosität und Angst fiel wie ein Mühlstein von ihr ab. Das Adrenalin hatte sich abgebaut, und nun machte sich die Müdigkeit der letzten schlaflosen Nacht bemerk- bar. Laura hatte Kopfschmerzen, aber das machte nichts. Sie hatte ihren Job gut gemacht. Nur das zählte. Sie hatte sich nicht blamiert, sondern das genaue Gegenteil erreicht. Und während Laura so in Gedanken versunken dasaß, klopfte jemand von hinten auf ihre Schulter.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach anspreche, Frau Schilberg“, sagte eine markante männliche Stimme. Laura drehte sich um und erblickte einen gutaussehenden, graumelierten Herrn hinter sich. Eine gepflegte Erscheinung in dunkelblauem Anzug. „Oh, ich bitte Sie!“, antwortete Laura. Der attraktive, schätzungsweise 60-jährige Herr machte schon etwas Eindruck auf die junge Frau. „Mein Name ist Stieglitz!“, stellte er sich vor.

Auf zu neuen Ufern und Zielen

„Ihr Vortrag war einfach toll! Hätten Sie in der Kaffeepause kurz Zeit für mich?“ Selbstverständlich konnte und wollte eine junge, Weltoffene Frau wie Laura Schilberg das Angebot eines so eleganten Herrn nicht ablehnen. So traf sie sich mit Herrn Stieglitz auf einen Kaffee. Dieses Date sollte für Laura sehr wichtig werden. Sie bekam eine Einladung des Leibnitz-Institutes, auf einer exklusiven Tagung denselben Vortrag noch einmal zu halten. Natürlich nahm Laura an. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie eingeladene Gastrednerin.

Kost und Logis sowie Reisekosten selbstverständlich frei. Nicht schlecht! Laura Schilberg war die einzige Doktorandin, die vor Professoren und erfahrenen Wissenschaftlern sprach. Laura merkte jedoch schon bei dem Gedanken an den nächsten Vortrag, dass trotz aller Bestätigung wieder ungute Gefühle in ihr aufstiegen. Was könnte sie dagegen tun?


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