Die deutsche Zeugnispraxis stellt ein absolutes Kuriosum in der globalen Arbeitswelt dar: Bewertet wird die Leistung eines Arbeitnehmers in starrer Form mittels antiquierter Sprache, die sich in 50 Jahren nicht wesentlich verändert hat. Das muss sich ändern!

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Verstaubt und Überflüssig

Verstaubt auf der einen Seite, überflüssig auf der anderen, weil viele Personalabteilungen Gefälligkeitszeugnisse ausstellen, so die landläufige Meinung über den Nutzen von Arbeitszeugnissen heute. Manche Arbeitszeugnisse klingen so verstaubt, dass man das Kratzen des Bleistifts auf dem Stenoblock des Fräulein Hermanns zu hören glaubt, wenn sie ehrfürchtig Direktor Stichlings Diktat aufnimmt.

Der tatsächliche Nutzen wird demnach vor allem bei Personalern als sehr gering erachtet, doch ohne geht´s für die Arbeitnehmer eben auch nicht – eine Bewerbung ohne Zeugnisse? Unvorstellbar. Ein Widerspruch, der bestens einführt in bundesrepublikanische Arbeitswirklichkeit. Man könnte auch sagen, wir haben hier ein Bonner Nachkriegsrelikt, das den Umzug nach Berlin so richtig verschlafen hat.

Größter Irrtum: Rechtsanspruch auf ein gutes Zeugnis

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Unwissenheit, wenig Erfahrung und vor allem Zeitmangel sorgen in der Realität dafür, dass ein Großteil der Arbeitszeugnisse unter Gefälligkeitsverdacht steht.

So sind nach einer Studie des Bundesarbeitsgerichtes fast 90 Prozent aller Zeugnisse mit der Note „Sehr gut“ bis „Gut“ ausgestellt worden, was den Verdacht zu bestätigen scheint.

Warum werden Gefälligkeitszeugnisse ausgestellt oder unliebsame Mitarbeiter „weggelobt“?

Die Verhaltensunsicherheit resultiert aus der Annahme eines irgendwie gearteten Rechtsanspruchs auf ein gutes Zeugnis. So konnte man mal wieder beispielhaft in der ZEIT:

„Durch den Rechtsanspruch auf ein gutes Arbeitszeugnis verliert es seine Bedeutung.“ Das ist schlichtweg falsch! Richtig wäre: „Durch den irrtümlichen Glauben an einen Rechtsanspruch auf ein gutes Arbeitszeugnis verliert es seine Bedeutung.“

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Weil es jeder so macht, machen es alle so. Wie verlässt man also die ausgetretenen Pfade der Zeugnispolitik?

Sehr hilfreich ist es sich zunächst, den Unterschied zwischen Zeugnispraxis und rechtlichen Grundlagen bewusst zu machen und sich entsprechend zu positionieren. So gibt es:

  1. nur einen Anspruch auf ein einfaches Zeugnis, nicht auf ein qualifiziertes. Das einfache Zeugnis gibt lediglich Auskunft über die Art und Dauer eines Beschäftigungsverhältnisses.
  2. einen Anspruch auf eine befriedigende Beurteilung des Arbeitgebers. Die Note 3 ist also zunächst gesetzt und sollte sich der Beurteilte darin nicht wiederfinden, muss er den Beweis antreten, dass er besser ist. Wenn ein Arbeitgeber schlechter als Note 3 beurteilt, trägt er als Arbeitgeber die Nachweispflicht.
  3. ein bereits existierendes Zwischenzeugnis kann nicht ignoriert werden, denn das Endzeugnis muss in Anlehnung an die vorangegangene Beurteilung verfasst sein und darf nicht wesentlich davon abweichen.
  4. eine Wahrheits- und Wohlwollenspflicht des Zeugnisausstellers, was das Bundesarbeitsgericht einfach aber gut so formuliert: Ein Zeugnis soll „im Rahmen der Wahrheit wohlwollend“ sein.

Gesamtzufriedenheitsformel überbewertet

Das qualifizierte Zeugnis hat sich jedoch als Standard durchgesetzt, hier wird neben fünf einzelnen Leistungskriterien auch eine zusammenfassende Beurteilung abgegeben. Als Kernstück wird in diesem Sinne die sogenannte „Gesamtzufriedenheitsformel“ begriffen: „Stets zur vollsten Zufriedenheit“ mit der Note „Sehr gut“, „stets zur vollen Zufriedenheit“ mit der Note „Gut“ usw., an der sich vermeintlich die Gesamtnote ablesen ließe.

Wer ein qualifiziertes Zeugnis ausstellt, muss die gesamte Palette der Möglichkeiten nutzen, um mit der Gesamtzufriedenheitsformel nicht „auf die Nase zu fallen“. Es gibt wohl kaum eine Aussage im Zeugnis, die mehr überschätzt wird als diese. Meist steht die Zufriedenheitsformel sogar im Widerspruch zu den restlichen Aussagen und ist somit unglaubwürdig.

Der Nachweispflicht zuvorkommen

Arbeitsleistung sollte jährlich dokumentiert werden! Was in größeren Unternehmen in Form von Beurteilungsbögen längst üblich ist, lohnt sich auch für KMU und spart im Falle der Zeugniserstellung sehr viel Zeit und Arbeit. Die Fremd- und Selbsteinschätzung erfolgt in der Regel mit den Beschäftigten zusammen und wird in den sogenannten Jahreszielvereinbarungsgesprächen oder Mitarbeiter/Vorgesetzten-Gesprächen kommuniziert.

Analog zu den Zeugnisbestandteilen kann hier Auskunft über den Stand Fachwissen, Weiterbildungen, Motivation, Arbeitsbefähigung, Arbeitsweise und Ergebnisse gegeben werden. Neben dem positiven Effekt für Personalentwicklung und Leistungskontrolle kann diese Dokumentation ein willkommenes Nebenprodukt für die faire Zeugniserstellung sein, da ausgesprochen konfliktarm und von Anfang an transparent.

Größere Verfehlungen gehören trotzdem ins Zeugnis

Die Beurteilung der regulären Ausführung der Arbeit darf nicht wesentlich abweichen von der des Zwischenzeugnisses. Sollte es aber zu grobem Fehlverhalten gekommen sein, wie etwa Diebstahl am Arbeitsplatz, muss dies mitgeteilt werden.

Allerdings nicht in Form einer Abwertung der Leistungsbeurteilung. Ein möglicher „Ort“ im Zeugnis wäre z.B. das Sozialverhalten (Verhältnis Vorgesetzte und Mitarbeiter) oder die arbeitgeberseitige Beendigungsinitiative, aus der sich eine fristlose Kündigung herauslesen lässt.

Es geht auch ohne Geheimcodes

Dass uns die Rechtsprechung durch das Gebot „wahr, aber wohlwollend“ ein sehr reales Dilemma in der Praxis beschert hat, steht außer Frage; allein mit Gefälligkeitszeugnissen oder Geheimcodes zu reagieren, ist keine Lösung. Denn es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, „echte“ Informationen über die tatsächliche Arbeitsleistung angemessen in einem Zeugnis unterzubringen.

Geht man etwa von einem scheidenden Mitarbeiter aus, bei dem die Arbeitsleistung befriedigend war, gibt es keinen Grund dies nicht auch so darzustellen, wie bereits weiter oben erwähnt.

Zwischentöne sind schwierig

Schwieriger liegt der Fall bei einer Beurteilung in Noten zwischen 3 und 4, wenn der Konfliktfall der Nachweispflicht durch den Arbeitgeber nicht riskiert werden will.

Eine wohlwollende Lösung in einem „wahren Rahmen“ könnte beispielsweise eine recht passive Aufgabenbeschreibung sein, die das eingeschränkte Erfüllungsvermögen des Beurteilten durchaus darstellt. Die einzelnen Leistungskriterien könnten dann der Note 3 entsprechen, ebenso die Zufriedenheitsformel. Wenn zusätzlich das Bedauern über den Weggang des Mitarbeiters nicht ausgesprochen wird, ergibt sich insgesamt ein Notenrahmen von 3 bis 4.

Die gute Nachricht zum Schluss

Gute, faire und transparente Zeugnisse zu schreiben ist möglich und machbar. Ziel sollte es sein mit möglichst wenig Zeitaufwand zu einem guten Ergebnis zu kommen, denn ausgefeilte literarische Zeugnisse müssen HR-Abteilungen nicht produzieren.

Es spricht in diesem Sinne nichts dagegen, fertige Bausteine in Anlehnung an die unternehmensinternen Beurteilungsbögen zu verwenden, die ein oder andere gute Software findet sich auf dem Markt. Gerne auch Expertise einkaufen oder ein standardisiertes Verfahren entwickeln, alles möglich, nur bitte keine Gefälligkeitszeugnisse schreiben!


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