Je größer der Wettbewerb, desto stärker müssten wir uns spezialisieren um erfolgreich zu sein – so zumindest die gängige Meinung. Doch das erzeugt unnötig Druck und ist obendrein falsch.

Spezialisten & Generalisten: Ziele erreichen durch Fokussierung?

Der Druck zur Spezialisierung

Der Druck auf eine frühe, laserartige Fokussierung betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Oft heißt es, je wettbewerbsintensiver und komplizierter die Welt werde, desto stärker müssten wir uns spezialisieren (und desto früher müssten wir mit der Spezialisierung beginnen), um uns erfolgreich im Leben behaupten zu können. Die prominentesten Protagonisten des Erfolgs werden für ihre Frühreife und Wunderkind-Merkmale gefeiert – Mozart am Klavier, Mark Zuckerberg an einer Tastatur ganz anderer Art. Egal um welches Gebiet es sich handelt, stets fand als Reaktion auf das ständig anwachsende menschliche Wissen und die immer enger vernetzte Welt eine Überbetonung der Fokussierung statt.

Im Sport ist dieses Syndrom allerdings am deutlichsten Präsent und es gibt viele Mythen. Tiger Woods ist zur Verkörperung des Dogmas geworden, erfolgsbestimmend sei die Zahl der Stunden, die auf eine reflektierte Praxis verwendet wird, und damit einhergehend der Vorstellung, Nachwuchstalente müssten möglichst früh mit der reflektierten Praxis beginnen.

Gibt es frühzeitig erkannte Ausnahmebegabungen?

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Sein Vater wusste, dass sein Sohn irgendwie anders war als andere Kinder. Mit kaum sechs Monaten konnte der Junge bereits auf der Handfläche seines Vaters balancieren, während dieser durchs Haus spazierte. Mit sieben Monaten gab ihm sein Vater einen Putter zum Spielen, und der Junge schleifte ihn in seinem kleinen runden Laufstall überall mit sich herum. Mit zehn Monaten kletterte er von seinem Kinderhochstuhl herunter, zockelte auf den Golfschläger zu, der auf seine Größe abgesägt worden war, und ahmte den Golfschwung seines Vaters nach, den er in der Garage beobachtet hatte. Weil der Vater noch nicht mit seinem Sohn reden konnte, malte er Bilder, um ihm zu zeigen, wie er den Schläger in der Hand halten musste. »Es ist sehr schwer zu vermitteln, wie man puttet, wenn ein Kind noch nicht sprechen kann«, merkte er später an.

Mit zwei Jahren, ein Alter, in dem ein Kind laut den amerikanischen Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention wichtige Meilensteine für die körperliche Entwicklung erreicht haben sollte, wie zum Beispiel »tritt einen Ball« und »steht auf den Zehenspitzen«, war er bereits im nationalen Fernsehen zu sehen und schlug mit einem Golfschläger, der so groß war, dass er ihm bis zur Schulter reichte, einen Golfball an dem bass erstaunten Komiker Bob Hope vorbei.

Im selben Jahr nahm er an seinem ersten Turnier teil und gewann in der Liga der unter Zehnjährigen. Es gab keine Zeit zu verschwenden. Mit drei lernte der Junge, wie man einen Ball aus einem Sandhindernis schlägt, und sein Vater begann sich Gedanken über seine Berufung im Leben zu machen. Er wusste, dass sein Sohn für den Golfsport auserwählt und es seine väterliche Pflicht war, ihn anzuleiten und ihm Orientierung zu bieten.

Der Auserwählte? Wunderkinder werden gemacht

Man denke einmal darüber nach: Wenn Sie sich über den zukünftigen Pfad Ihres Kindes vollkommen gewiss wären, würden Sie Ihr dreijähriges Kind vielleicht auch auf den richtigen Umgang mit der unvermeidlichen und unersättlichen Medienaufmerksamkeit vorbereiten. Er fragte seinen kleinen Sohn aus, spielte den Reporter und lehrte ihn, kurze, knappe Antworten zu geben und sich exakt auf die Beantwortung der Frage zu beschränken. In jenem Jahr spielte er einen 9-Loch-Golfplatz in Kalifornien mit 48 Schlägen, elf über Par.

Mit vier Jahren lieferte ihn sein Vater um neun Uhr morgens auf dem Golfplatz ab und holte ihn acht Stunden später wieder ab, gelegentlich mit dem Geld, das er bei Wetten gegen Leute, die an den Ausnahmefähigkeiten seines Sohns zweifelten, gewonnen hatte. Mit acht schlug der Sohn seinen Vater zum ersten Mal. Diesem machte es nichts aus, weil er davon überzeugt war, dass sein Sohn eine einzigartige Begabung besaß und er als Vater auf einzigartige Weise in der Lage war, ihn zu unterstützen. Er war selbst ein hervorragender Sportler gewesen, und das trotz extrem widriger Umstände. Im College war er der einzige schwarze Baseballspieler der gesamten Liga gewesen. Als Soziologe, der als Mitglied der militärischen Eliteeinheit Green Berets im Vietnamkrieg gekämpft hatte, besaß er eine gute Menschenkenntnis und wusste, was Disziplin bedeutete. Später unterwies er angehende Offiziere in psychologischer Kriegsführung.Er wusste, dass er für seine drei Kinder aus erster Ehe kein besonders guter Vater gewesen war, aber nun fühlte er, dass er eine zweite Chance erhalten hatte, es mit seinem vierten Kind besser zu machen. Und tatsächlich verlief alles nach Plan. Als sein Sohn an die Stanford University ging, war er bereits berühmt und sein Vater prophezeite ihm eine große Zukunft. Sein Sohn werde mehr Einfluss gewinnen als Nelson Mandela, Gandhi und Buddha, versicherte er. »Er hat ein größeres Forum als jeder Einzelne von ihnen«, sagte er. »Er ist die Brücke zwischen Ost und West. Alles ist möglich, denn er wird vom Schicksal gelenkt. Ich weiß nicht genau, welche Form seine Zukunft annehmen wird, aber ich weiß, dass er auserwählt ist.«

Hauptsache irgendein Sport

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Die zweite Geschichte kennen Sie wahrscheinlich auch, wenngleich Sie sie vielleicht nicht auf Anhieb wiedererkennen. Seine Mutter war selbst Tennislehrerin, aber sie trainierte ihn nie. Als er das Gehen lernte, kickte er mit seiner Mutter Bälle. Als Junge spielte er sonntags mit seinem Vater Squash. Er probierte sich im Skifahren, Wrestling, Schwimmen und Skateboarden. Außerdem spielte er Basketball, Handball, Tennis, Tischtennis, Badminton über den nachbarlichen Zaun und Fußball in der Schule.

Später sagte er, die vielen verschiedenen Sportarten, die er in seiner Jugend praktiziert hatte, hätten ihm bei seiner sportlichen Entwicklung und der Auge-Hand-Koordination geholfen. Ihm war es egal, welche Sportart er betrieb, solange daran ein Ball beteiligt war. »Ich hatte immer ein wesentlich größeres Interesse an einer Sportart, wenn sie mit einem Ball zu tun hatte«, erinnerte er sich. Als Kind war er sehr verspielt. Seine Eltern hegten für ihren Sohn keine besonderen sportlichen Ambitionen. »Wir hatten weder einen Plan A noch einen Plan B«, sagte seine Mutter später. Sie und der Vater des Kindes ermutigten ihn dazu, viele verschiedene Sportarten auszuprobieren. Sport war für ihn unverzichtbar. Wenn er länger stillsitzen sollte, wurde er »unerträglich«, so seine Mutter.

Lernen muss Spaß machen

Zwar arbeitete sie als Tennistrainerin, aber sie wollte nicht mit ihm arbeiten. »Er hätte mich auf die Palme gebracht«, sagte sie. »Er probierte jede noch so merkwürdige Schlagführung aus; jedenfalls retournierte er den Ball nie auf normale Weise. Für eine Mutter ist das einfach kein Spaß.« Wie ein Reporter des Sportmagazins Sports Illustrated bemerkte, waren seine Eltern alles andere als fordernd und drängten ihn zu nichts, sondern ließen ihn gewähren. Als der Junge in die Pubertät kam, tendierte er stärker zu Tennis und »wenn sie ihn überhaupt ermahnten, dann nur, um ihn daran zu erinnern, dass er aufhören solle, Tennis so todernst zu nehmen«. Wenn er ein Match spielte, ging seine Mutter oft weg, um sich mit Freundinnen zu unterhalten, und sein Vater gab ihm nur eine Regel mit auf den Weg: »Schummle nicht.« Daran hielt sich der Junge und wurde allmählich richtig gut.

Als Jugendlicher spielte er so gut, dass eine örtliche Zeitung ein Interview mit ihm führte. Seine Mutter war bestürzt, als sie in dem Artikel seine Antwort auf die Frage las, was er mit seinem hypothetischen ersten Einkommen aus dem Tennissport kaufen würde: »Mercedes.« Und sie war erleichtert, als der Reporter ihr die Aufnahme des Interviews vorspielte und sie merkten, dass er sich verhört hatte – ihr Sohn hatte auf Schweizerdeutsch geantwortet: »Mehr CDs.« Zweifellos war der Junge ehrgeizig. Doch als seine Tennistrainer beschlossen, ihn in eine Gruppe mit älteren Spielern zu stecken, bat er sie, zu seiner alten Gruppe zurückkehren zu dürfen, denn er wollte bei seinen Freunden bleiben. Immerhin war ein Teil des Spaßes die Zeit, die sie nach den Trainerstunden zusammen verbrachten, und ihre Gespräche über Musik, Wrestling und Fußball.

Als er die anderen Sportarten – vor allem Fußball – schließlich aufgab, um sich ganz auf den Tennissport zu konzentrieren, arbeiteten die anderen Nachwuchsspieler längst mit Krafttrainern, Sportpsychologen und Ernährungswissenschaftlern. Langfristig schien das jedoch kein Handicap für seine sportliche Entwicklung zu sein. Mit Mitte dreißig, einem Alter, in dem sich selbst legendäre Tennis-Asse üblicherweise aus dem aktiven Sport zurückziehen, war er immer noch Weltranglistenbester.

Der beste Athlet der Welt

Im Jahr 2006 trafen sich Tiger Woods und Roger Federer zum ersten Mal. Beide befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer sportlichen Karriere. Tiger flog mit seinem Privatjet, um sich das Finale der U.S. Open anzusehen. Das machte Federer zwar besonders nervös, aber er gewann, und zwar zum dritten Mal in Folge. Woods traf sich mit ihm in der Umkleidekabine, um mit Champagner auf den Sieg anzustoßen. Sie hatten sofort einen Draht zueinander. »Ich habe noch nie mit jemandem gesprochen, der das Gefühl, unschlagbar zu sein, so gut nachempfinden konnte«, beschrieb Federer ihre Begegnung später. Sie wurden nicht nur schnell Freunde, sondern auch zum Mittelpunkt der öffentlichen Debatte über die Frage, wer der beste Athlet der Welt sei.

Federer entging jedoch nicht die Gegensätzlichkeit zwischen ihm und Tiger. »Seine Geschichte ist vollkommen anders als meine«, erzählte er seinem Biographen im Jahr 2006. »Schon als Kind war es sein Ziel, den Rekord an Major-Siegen zu brechen. Ich träumte nur davon, eines Tages Boris Becker zu treffen oder irgendwann bei Wimbledon mitspielen zu können.« Für ein Kind, dessen Eltern kein großes Interesse an seiner sportlichen Entwicklung hatten, und das den Sport zunächst nicht besonders ernst nahm, ist es sehr ungewöhnlich, dass es sich zu einem der weltweit erfolgreichsten Athleten entwickelte.

Gezielte Förderung oder Laissez-faire?

Anders als im Fall von Tiger Woods gab es Tausende von Kindern, die wesentlich bessere Ausgangsbedingungen hatten als Roger. Die unglaubliche Erziehung und Förderung, die Tiger als Kind zuteilwurde, ist das zentrale Thema zahlreicher Bestseller über die Entwicklung und Förderung von Spitzenleistungen, zu der auch ein Erziehungsratgeber aus der Feder von Tigers Vater Earl gehört. Tiger spielte nicht einfach Golf, er pflegte die »reflektierte Praxis« – die einzige Methode, die die inzwischen allgegenwärtige Zehntausend-Stunden-Regel für Spitzenleistung gelten lässt. Diese »Regel« steht für die Vorstellung, das alles entscheidende Merkmal der Kompetenzentwicklung, unabhängig vom jeweiligen Gebiet, sei die Zahl an fokussierten Übungsstunden.

Laut einer Untersuchung über dreißig Violinisten, aus der diese Regel hervorging, besteht die reflektierte Praxis darin, dass Lernende »explizite Anweisungen über die beste Methode erhalten«, individuell von einem Lehrer oder Trainer betreut werden, »umgehendes informatives Feedback und Auskunft über die Ergebnisse ihrer Leistung erhalten« und »wiederholt dieselben oder ähnliche Aufgaben ausführen«. Eine Vielzahl von Büchern über das Thema, wie man Spitzenleistungen erzielt, zeigen, dass Elite-Athleten pro Woche mehr Zeit auf eine technisch ausgefeilte reflektierte Praxis verwenden als Sportler, deren Leistungsplateau bereits auf einer niedrigeren Ebene erreicht ist.

Sind Generalisten weniger erfolgreich?

Onkologen sind nicht mehr länger auf Tumore spezialisiert, sondern auf eine besondere Ausprägung, die ein bestimmtes Organ befällt, und dieser Trend verstärkt sich mit jedem Jahr. Der amerikanische Chirurg Atul Gawande merkte an, Ärzte würden über »Otologen für das linke Ohr« scherzen, allerdings mit dem Vorbehalt, »wir müssen aufpassen, was wir sagen. Am Ende gibt es sie vielleicht wirklich«. In dem Bestseller Bounce, der auf der Zehntausend-Stunden-Regel aufbaut, vertritt der britische Journalist Matthew Syed die Auffassung, die britische Regierung sei so schlecht, weil sich ihre Mitglieder anders als Tiger Woods nicht auf bestimmte Fachgebiete spezialisiert hätten. Die Rotation von Ministern zwischen verschiedenen Ressorts sei »nicht weniger absurd, als wenn Tiger Woods vom Golfsport nacheinander zu Baseball, Football und Hockey wechseln würde«.

Nach Jahrzehnten im sportlichen Mittelfeld erzielte Großbritannien allerdings mithilfe von Programmen zur sportlichen Entwicklung erwachsener Athleten, die zunächst an verschiedene Sportarten herangeführt werden, und der Schaffung eines Pools an athletischen Spätzündern – sogenannte Slow Baker, wie einer der maßgeblichen Manager des Programms sie mir gegenüber bezeichnete – große Erfolge bei der jüngsten Sommerolympiade. Offenbar ist die Idee, Athleten zu Spitzensportlern zu entwickeln, indem sie wie Roger als Generalisten beginnen und zunächst verschiedene Sportarten ausprobieren, gar nicht so falsch.

Viele Spitzensportler spezialisieren sich spät

Spitzensportler, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit befinden, verbringen mehr Zeit mit fokussierter reflektierter Praxis als ihre Beinahe-Spitzensportler-Kollegen. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung des Entwicklungspfads von Athleten, von ihrer frühen Kindheit bis zum Erreichen der Leistungsspitze, hat sich jedoch folgendes Bild ergeben:

Spätere Spitzensportler haben in jungen Jahren in der Disziplin, in der sie schließlich Spitzenleistungen erbringen, eher weniger Zeit mit reflektierter Praxis verbracht; vielmehr durchliefen sie zunächst eine »Phase des Ausprobierens«. In jungen Jahren praktizieren sie verschiedene Sportarten, und das üblicherweise in einer unstrukturierten oder nur gering strukturierten Umgebung. Dabei erwerben sie vielseitige körperliche Fertigkeiten, auf die sie sich später stützen können. Außerdem lernen sie dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Neigungen kennen. Erst in einem späteren Alter beginnen sie, sich auf eine Disziplin zu konzentrieren und die technische Praxis zu intensivieren. In dem Titel einer Studie über Individualsportler wurde die »späte Spezialisierung« als »Schlüssel zum Erfolg« bezeichnet; eine andere Studie titelte:  »So wird man zum Spitzensportler in Teamsportarten: spät beginnen, intensiv trainieren und zielstrebig sein.«


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