Anke Ernst macht nach nach dem Studium eine Weltreise – um Erfahrungen zu sammeln und sich über ihre eigenen beruflichen Ziele klar zu werden. Dabei spricht sie mit jungen Menschen weltweit über ihre Einstellung zu Leben und Beruf.

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Sein Bart ging ihm einst bis zum Schlüsselbein. Ein roter, buschiger Bart. In Trogir (Kroatien) hatte Noel aufgehört, ihn zu schneiden. Sein Bart wuchs irgendwo in der Wildnis des Staates Washington ungehindert weiter. Jetzt ist sein Bart ab.

Ich lerne Noel in San Francisco kennen, wo er ein paar Tage Urlaub macht. Er ist 27, Chemieingenieur und kommt aus Portland. Dank der Internetcommunity CouchSurfing übernachten wir beim selben Gastgeber.

Als ich eintrete steht Noel höflich auf, gibt mir die Hand und stellt sich vor. Er ist mir sofort sympathisch. Nach einem gemeinsamen Ausflug nach Alcatraz frage ich ihn, ob er mir von seinem Leben erzählen möchte. Er ist erst verwirrt, dann gespannt und sagt zu.

Orientierungslosigkeit nach dem Studium

Sein Studium hatte er mit 22 Jahren abgeschlossen, war jedoch ausgebrannt von den Prüfungen und den vielen langweiligen und Praktika, jeden Sommer eins. Auch von der Beziehung zu einem Mädchen, die die beiden immer wieder aufnahmen und letztendlich ganz sein ließen. Noel fühlte sich leer. Nach dem Studium wollte er vor allem zwei Dinge: Etwas anderes machen – und Reisen.

So kam es, dass er zwei Wochen lang in Trogir riesige Maschinen in einem Schiffsmotor säuberte. Danach knüpfte Noel an das an, was für ihn auch heute eines der wichtigsten Momente seines Lebens war: Die Bekehrung zum christlichen Glauben im Alter von 17 Jahren.

Reise ins Ich

Nach der körperlichen Arbeit in Kroatien begab er sich deshalb auf eine komplizierte Reise in die Wildnis Washingtons. Metaphorisch gesehen ins Dickicht seines Selbst. Er nahm zuerst einen Bus, dann ein Boot und fuhr das letzte Stück per Anhalter zu einer liberalen christlichen Kommune von Lutheranern. In den drei Monaten, die er dort blieb, fand er Gott nicht, erkannte aber, dass er vor seiner Situation in der Heimat nicht weglaufen konnte.

Er zog zurück nach Portland. Den Bart konnte er nicht entwirren, also schnitt er ihn ab. Er nahm einen Job als Ingenieur an, um die Rechnungen zu zahlen. Ging Standard tanzen. Er schloss sich der Gemeinde “Imago Dei” [lateinisch für “Bild Gottes”] an und bat Gott, ihn zu finden, nachdem er den Gott vergeblich gesucht hatte.

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Jetzt geht es bergauf

Die Sonne blendet Noel ein bisschen und mit zusammengekniffenen Augen und einem Grinsen erzählt er mir bei einem Kaffee am Fisherman’s Wharf, dass es für ihn jetzt bergauf geht.

Mit der langen 40 Stundenwoche kann Noel leben, weil er sich gut mit seinen Kollegen versteht. Aber auch seine Arbeit erfüllt ihn, denn ihm ist Nachhaltigkeit wichtig und seine Firma verkauft Produkte, die Regenwasser säubert und so Seen, Flüsse und Ozeane im ökologischen Gleichgewicht hält.

Ein Jahr lang, seinem Lieblingsjahr bisher, hatte er subtile, kleine Zeichen von Gott erhalten. Er hat nach Gnade und einer allem übergeordneten Wahrheit gesucht, die, wie er sagt, von jedem subjektiv erfahren wird. Heute ist er sich sicher, dass diese Wahrheit existiert.

Am Nacktradrennen teilgenommen

Ob Gott ihn ermutigt hat, an Nacktradrennen teilzunehmen? Noel hat es jedenfalls getan. Erst in einer großen Gruppe nachts, dann ein Mal tagsüber, wo er ebenso viele Teilnehmer erwartet hatte. Leider kamen nur 40 und das kleine Grüppchen traf unerwartet auf eine Parade, deren Ende sie dann aufgefordert wurden, zu bilden. “Ich will nicht wissen, wie viele Leute Nacktbilder von mir haben. Ich habe nichtmal selbst welche.”

In der Zukunft will Noel unbedingt heiraten. Die Ehe ist für ihn eine lebenslange Verpflichtung, die den Partnern hilft, zu besseren Menschen zu werden. Die Bereitschaft, den anderen nicht zu verlassen, egal was passiert, hält er nicht für unzeitgemäße Romantik, sondern für Realismus. Der Mensch sei eben ein soziales Wesen, sagt er.

Hauptsache menschlich

Was mir an Noel so gut gefällt ist seine Menschlichkeit. Er handelt, um anderen Gutes zu tun. Als ein Obdachloser uns um einen Dollar bittet, gibt Noel ihm erst die Hand und dann das Geld. Er sagt zu mir, dass es ihm egal ist, was der Mann damit macht, Hauptsache er merkt, dass er respektiert wird.

Mir wird wie so oft klar, dass wir heutzutage die Freiheit haben, uns unseren Glauben selbst auszusuchen. Das ist positiv, aber gleichzeitig bedeutet es für viele Menschen eine gewisse Orientierungslosigkeit.

Ein Beispiel, das Hoffnung macht

Auch an Noels Lebensweg kann ich erkennen, wie schwer es für ihn gewesen ist, einen Glauben zu finden, der seine Werte und sein Leben in einen größeren Zusammenhang stellt. Dafür bieten ihm seine Überzeugungen heute echten Halt.

Und Noels Beispiel macht Hoffnung. Es gibt Arbeit, die gut bezahlt wird – und die zusätzlich Mensch und Gesellschaft bereichert. Ich frage mich allerdings, ob dieser Anspruch Luxus ist oder ob man ihn als Berufsanfänger durchaus an die Gesellschaft stellen kann? Noel jedenfalls hat sich sein Glück verdient.