In den 1960er-Jahren begannen andere Persönlichkeitstheo­retiker, die sogenannten Big Five zu entwickeln: das Fünf-Fak­toren-Modell der Persönlichkeit. Dabei handelt es sich um Per­sönlichkeitszüge, die zeitlebens relativ stabil bestehen bleiben.

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Intraversion und Extraversion als stabile Persönlichkeitsmerkmale

Die Extroversion und deren Gegenteil, die Introversion, gehören zu diesen Persönlichkeitszügen. (Die weiteren sind Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und Soziale Verträglichkeit).

Jeder von uns steht auf diesem Kontinuum der Persönlichkeitszüge auf einem anderen Platz. Die Extroversion hat in diesem Modell sechs Aspekte: herzlich, gesellig, durchsetzungs­fähig, aktiv, empfänglich für An- und Aufregungen und positiv gestimmt.

Auch hier ist es wieder so, dass nichts Schönes heraus­ kommt, wenn man das Gegenteil der Extroversion extrapoliert: kalt, schweigsam, nachgiebig, häuslich, langweilig und mürrisch.

Die Diskussion um die Introversion

In den letzten Jahren hat die Debatte darüber angehalten, was Introversion ist, sie hat jedoch seit Freuds griesgrämiger Bewer­tung einen weiten Weg zurückgelegt. Unter Einsatz aller heute verfügbaren neuen Hochleistungstechnologien im Bereich der Ge­hirn-Scans beginnen die Wissenschaftler tatsächlich, Unterschiede in den Gehirnen Introvertierter und Extrovertierter festzustellen.

Und allmählich setzt sich auch die Auffassung durch, dass Introver­sion gar nicht so schlecht sei – dass sie tatsächlich einige wirklich gute Qualitäten haben könnte. Die Psychoanalytikerin und Auto­rin Marti Laney war eine der ersten der sogenannten “Pro-Introver­sions”-Bewegung und bereicherte die Diskussion um einige weitere Qualitäten Introvertierter: scharfsinnige Denker, kreativ, sich selbst reflektierend, flexibel, verantwortungsbewusst.

Introversion und Hochsensibilität

Das ist großartig und liefert Ansätze, die Introversion in eine völ­lig andere Richtung zu definieren. Das tut beispielsweise der von der Psychologin Elaine Aron geprägte Begriff der “Hochsensiblen Personen” (kurz HSP), der ebenfalls in den Introversions-Definitions-Mix aufgenommen wurde, weil viele Introvertierte, die ihre Bücher gelesen haben, sich darin selbst wiedererkannt haben.

Hochsensible Menschen werden schnell von zu viel Aufregung und Unruhe überwältigt, sie sind empfänglich für die Stimmungen an­derer Menschen und nehmen alles in ihrer Umgebung übermäßig stark wahr.

Dies ist eine Frage der sensorischen Verarbeitung. Von mir ist bekannt, dass ich zu einer großen, lebhaften Party ging und beinahe in Katatonie verfiel. Ob diese hohe Empfindlichkeit für äußere Stimuli nun auch ein Aspekt der Introversion oder etwas anderes ist, insgesamt trägt dieser zusätzliche Aspekt der Definition der Introversion jedenfalls zu weiterer Verwirrung bei.

Der Stand der Wissenschaft

Und es gibt das Problem, dass Schüchternheit lange Zeit als Synonym für Introversion galt. Die vielen Jahre, in denen Wis­senschaftler und andere “Introversion” und “Schüchternheit” als austauschbare Begriffe verwendet haben, machen die Sache entschieden verworrener, vor allem im Labor.

In der Vergangenheit wurde viel Forschungsarbeit unter der Annahme geleistet, dass Schüchternheit für Introversion stünde, daher ist die Forschung zwar durchaus interessant und teilweise auch relevant, teilweise jedoch auch irrelevant.

Trotz der Verwirrung wird eines zunehmend klar: Introversion ist mehr als nur die Abwesenheit von Extroversion. Wir Introver­tierte nehmen unseren eigenen Raum in der Welt ein, auch wenn dessen Gestaltung noch nicht vollständig definiert ist. Wir sind ein bisschen Jung und ein bisschen Eysenck.

Feldforschung und Labor-Theorie

Die Wissenschaftler sollen die Arbeit im Labor erledigen, wir jedoch betreiben Feldforschung. Wir sind Teil der Bewegung, um die Introversion zu definieren, zu schildern und zu verstehen, und kommen dem Ziel täglich näher, alles darüber herauszufinden.

Viele Introvertierte beziehen sich auf Arons HSP, auch wenn das Urteil darüber, ob ein Zusammenhang mit Introversion vorhanden ist, noch aussteht.

Die gute Nachricht jedoch lautet, dass sich Introvertierte mehr als je zuvor (Dank sei dem World Wide Web) zusammenschließen, miteinander sprechen, Nachrichten austauschen und ihre Natur annehmen, wie sie ist.