Kann man Charisma lernen? Vielleicht, wenn man es passend definiert und leider auch degradiert. In Wirklichkeit ist Charisma kein Toolset, das man als Führungskraft einfach so kaufen kann. Es ist Ausdruck einer reifen und erfahrenen Persönlichkeit.

Charisma Training

Die Wahrheit über Charisma

Das Thema Charisma liegt voll im Trend. Wer den Begriff in die Suchmaske von Online-Büchershops eingibt, erhält Tausende Treffer. Recherchiert man den Begriff in Kombination mit “Training”, wirft Google weltweit Millionen Resultate aus. Beides sind klare Anzeichen für den Wunsch vieler Menschen, sich über Lektüre oder Seminare mehr Ausstrahlung aneignen zu können. Tatsächlich sollte jeder an seiner Körperhaltung und -sprache, Rede– und Kommunikationsfähigkeit sowie Mimik und Stimme arbeiten.

Denn diese Faktoren sind auf beruflicher und privater Ebene ungeheuer wichtig – sei es bei Verhandlungen oder im Management. Was viele allerdings nicht wissen: Charisma ist im Grunde genommen keine innere Gabe, sondern vielmehr die Wirkung auf die Außenwelt – die einer reifen Persönlichkeit entspringt.

Mythos oder mehr als das?

Über Charisma halten sich zahlreiche hartnäckige Mythen, selbst bei Profis wie Führungskräften, Fachbuchautoren und Trainern. Die alten Griechen glaubten noch, dass diese Eigenschaft ein göttliches Geschenk sei. Heute halten die meisten Charisma für ein Bündel von Verhaltensweisen, mit denen sich andere oberflächlich beeindrucken lassen. Gemäß dieser Sichtweise handelt es sich dabei um etwas, das man sich einfach antrainieren kann und einen in die Lage versetzt, ein hohes Maß an Integrität, Autorität, Erfahrung und eine starke Persönlichkeit auszustrahlen.

Außer Acht bleibt bei diesem Ansatz die innere Voraussetzung für echtes Charisma: Wer im Leben Siege und Niederlagen erlebt und bereits durch Taten geglänzt hat, tritt ganz natürlich überzeugend auf – ohne der Welt etwas vorspielen zu müssen.

Weder Gottesgabe noch Erfolgsrezept

Charisma bekommt man weder in die Wiege gelegt noch ist es eine Eigenschaft, die man mal eben schnell im Wochenend-Workshop erwerben kann. Vielmehr ist Charisma das Ergebnis eines Berufs- und Privatlebens, das reich ist an Erfahrungen, Erkenntnissen und Erlebnissen. Doch wie lässt sich die eigene Wirkung auf die Außenwelt steigern und bei der Führung von Menschen gewinnbringend nutzen?

Hilfreich in diesem Zusammenhang ist das Konzept des Politologen und Geschichtswissenschaftlers James McGregor Burns, der zwei Arten politischer Würdenträger identifizierte: den transaktionalen und transformierenden Typus. Transaktionale Politiker stehen für den Status quo, transformationale Politiker für den Wandel. Basierend auf dieser Analyse entwickelte George M. Brass die Theorie der Transformationalen Führung.

Visionäre Führungspersönlichkeiten

Viele Menschen neigen zur egoistischen Konzentration auf persönliche Anliegen. Transformationale Führungskräfte können sie jedoch dazu bewegen, aus innerem Antrieb heraus höhere Ziele zu verfolgen. Dieser Typus Manager hat Visionen, wirkt als Vorbild und versteht es, Menschen bei der Umsetzung mitzunehmen.

In den letzten Jahren hat sich das Bild vom Wesen des Charismas verändert: Führungskräfte, die mehr Schein als Sein demonstrieren, in narzisstischer Weise ihre Mitmenschen für egoistische Ziele instrumentalisieren, sind nicht mehr zeitgemäß. Richtig verstandene Ausstrahlung hingegen entsteht auf dem Fundament einer positiven Reputation.

Die höchste Stufe der Führungsqualität

Der renommierte Management-Fachmann Jim Collins hat für sein Buch Der Weg zu den Besten 1.435 US-Unternehmen analysiert. Aus den 500 über drei Jahrzehnte hinweg kontinuierlich erfolgreichsten dieser Firmen kristallisierte er die Top 11 heraus – solche, die nicht nur groß, sondern geradezu “großartig” sind. Überraschendes Ergebnis: Es gibt offenbar keine Korrelation zwischen charismatischer Führung und dem außergewöhnlichen Erfolg von Unternehmen.

Überdurchschnittlich wirksame Führungskräfte überzeugen mit einem Mix aus Entschlossenheit und Bescheidenheit. Das unterscheidet Unternehmensführer, die diese Bezeichnung wirklich verdienen, von allenfalls kompetenten und effektiven Managern. Laut Collins verfügen diese Leader über von ihm so bezeichnete “Level 5-Führungsqualitäten”, die das Unternehmen vorantreiben.

1. berufliche Entschlossenheit

Die in diesem Sinne skizzierte Führungspersönlichkeit…

2. persönliche Bescheidenheit

Manager mit Level-5-Führungsqualitäten…

Es fällt auf, dass die Erkenntnisse von Collins mit den Forschungsergebnissen Max Webers übereinstimmen. Der Weltbekannte Soziologe hatte schon vor rund 100 Jahren erklärt: Institutionen, die Bestand haben, verdanken ihren Erfolg nicht dem Charisma eines Anführers, sondern dem Umstand, dass sie die Kunst der Führung im gesamten System kultivieren.

Werte und Taten sind entscheidend

Gemäß Jim Collins‘ Studien handeln überdurchschnittlich erfolgreiche Manager wertebasiert. Sie brauchen nicht zwingend eine außergewöhnlich starke Ausstrahlung. Allerdings kann diese für die Sache natürlich förderlich sein, da der Erfolg auch von einer gut funktionierenden sozialen Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter abhängt – und in diesem Zusammenhang spielen eine authentische Sprache sowie Mimik und Gestik eine wesentliche Rolle. Viel wichtiger als ein noch so beeindruckender Auftritt sind aber die konkreten Taten.

Ähnlich sehen es die Autoren Jim Kouzes und Barry Posner, die die Handlungen von Managern untersuchten. Sie wollten herausfinden, wie ihre Führung die Mitarbeiter erreicht und welche Verhaltensweisen über den Erfolg entscheiden.

Neben kommunikativen Fähigkeiten gibt es demnach fünf wesentliche Treiber für herausragenden Führungserfolg, die sie als konkrete Empfehlungen formulieren:

1. Vorbildfunktion

2. Gemeinsame Visionen

3. Prozesse vorantreiben

4. Mitarbeiter zum Handeln befähigen

5. Ermutigung

Charisma-Training – ja oder nein?

Die Erkenntnisse von Collins, Kouzes und Posner stellen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Managertätigkeit dar. Wer sie befolgt, macht sich unabhängig von der externen Steuerung sowie die mehr oder weniger klugen Ratschläge in Fachbüchern. Die Forschungsergebnisse helfen, zu einer autonomen Führungspersönlichkeit mit hoher Strahlkraft auf andere Menschen heranzureifen.

Und erst an dieser Stelle macht es Sinn, über Charisma-Workshops nachzudenken. Sicherlich kann man es sich kaum antrainieren, wie Julius Cäsar, Martin Luther King oder Mahatma Gandhi auf andere Menschen zu wirken. Sehr wohl funktioniert es aber, seine eigene Persönlichkeit maximal zu entwickeln – dabei aber immer gewahr zu bleiben, dass dieser Prozess niemals vollends abgeschlossen ist. Manager, die hier ansetzen, können mit den richtigen Trainingsmaßnahmen ihre persönliche Außenwirkung deutlich verbessern.

Repräsentieren, was man lebt

Nachhaltig wirksam sind solche Seminare jedoch nur, wenn die Führungskraft die dargestellten Werte auch tatsächlich lebt und seiner Vorbildfunktion im betrieblichen Alltag gerecht wird. Eine Abkürzung zu echter Integrität gibt es nicht – weder durch einen Schnellkurs in Sachen Charisma noch durch andere Tricks, die angeblich zu einer starken Ausstrahlung verhelfen. Denn Menschen besitzen ein sehr feines Gespür dafür, ob es jemand ernst meint und ein Haus aus solider Substanz errichtetet hat – oder doch nur mit einer schnell dahin gepinselten bunten Fassade Eindruck schinden will.

Auf lange Sicht führt einzig die Konzentration auf innere Werte zum Erfolg. Wer auf dieser Basis seine Persönlichkeit und individuellen Kompetenzen mit den geeigneten Trainingsmaßnahmen optimiert, kann auch im digitalen Zeitalter zum ausstrahlungsstarken Charismatiker werden.