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Offenlegung & Urheberrechte: Bildmaterial erstellt und lizenziert mit Canva. Text ursprünglich aus: “Die Siegergene. Talent, Übung und die Wahrheit über außergewöhnlichen Erfolg” (2020) und Es lebe der Generalist!: Warum gerade sie in einer spezialisierten Welt erfolgreicher sind” (2020)
, erschienen bei Münchener Verlagsgruppe (MVG), Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Von David Epstein (Mehr) • Zuletzt aktualisiert am 16.09.2024 • Zuerst veröffentlicht am 29.09.2020 • Bisher 4926 Leser, 1241 Social-Media-Shares Likes & Reviews (5/5) • Kommentare lesen & schreiben
Wie entstehen außergewöhnliche Leistungen? Und welche Erfolgseigenschaften bringen echte Sieger und Gewinner mit? Der Sport ist ein gutes Beispiel.
Im College hatte ich die Gelegenheit, gegen Kenianer anzutreten, und fragte mich, ob Ausdauergene die Reise aus Ostafrika mitgemacht hatten. Gleichzeitig fiel mir auf, dass sich fünf Teamkameraden, die Tag für Tag, Schritt für Schritt miteinander trainierten, dennoch zu fünf völlig verschiedenen Läufern entwickelten. Wie konnte das sein?
Nach dem Ende meiner College-Läuferkarriere studierte ich Naturwissenschaften und schrieb später für die Sports Illustrated. Eine Recherche führte mich jenseits des Äquators und des Polarkreises und brachten mich in Kontakt mit Weltmeistern und Olympiasiegern, aber auch mit Tieren und Menschen, deren seltene Genmutationen oder außergewöhnliche körperliche Eigenschaften einen drastischen Einfluss auf die körperliche Leistung haben. Unterwegs erfuhr ich, dass Charaktereigenschaften wie beispielsweise die Trainingsmotivation, die ich für eine Frage des Willens hielt, tatsächlich in großem Maße genetisch bestimmt sind, während andere vermeintlich angeborene Eigenschaften wie die blitzschnelle Reaktionsfähigkeit eines Baseball- oder Cricket-Schlagmanns womöglich gar nicht erblich bedingt sind.
Beginnen wir doch gleich einmal mit einem Beispiel dazu. Das American-League-Team lag weit zurück, und für das NationalLeague-Team trat gerade Schlagmann Mike Piazza an. Also holte man die Geheimwaffe aufs Feld. Jennie Finch schlenderte an einer Phalanx der weltbesten Batter vorbei auf das sonnenbeschienene Infield. Ihr flachsfarbenes Haar strahlte im klaren Wüstenlicht. Seit vierundzwanzig Jahren war das Pepsi All-Star-Softballspiel ein Ereignis, an dem nur Baseballspieler der Major League teilnahmen. Die Menge brummte vor Aufregung, als die 1,85 Meter große Spitzenpitcherin der Softball-Nationalmannschaft den Pitcher-Hügel erreichte und ihre Finger um den Ball legte.
Es war ein milder Tag im kalifornischen Cathedral City; 21 Grad warme Luft füllte die hiesige Nachbildung des Wrigley Field der Chicago Cubs, einer der uramerikanischen Sportkathedralen. Die Replik in Dreiviertel der Originalgröße glich dem Original bis hin zu den mit Efeu bedeckten Mauern. Sogar die geziegelten Wohnhäuser der Chicagoer Nachbarschaft waren dort in der Wüste am Fuße der Santa Rosa Mountains präsent, auf beinahe lebensgroß ausgedruckten Originalfotos. Finch, die in wenigen Monaten bei den Olympischen Spielen 2004 eine Goldmedaille gewinnen sollte, war ursprünglich nur als Mitglied des Trainerstabs der American League eingeladen worden.
Das änderte sich, als die Stars der American League im fünften Inning mit 9:1 in Rückstand gerieten. Kaum war Finch auf dem Mound angekommen, machten es sich die Defensivspieler hinter ihr gemütlich. Der Yankees-Infielder Aaron Boone zog seinen Handschuh aus und legte sich hin, wobei er die zweite Base als Kissen benutzte. Hank Blalock von den Texas Rangers nutzte die Gelegenheit für ein Schlückchen Wasser. Immerhin hatten sie Finch während des Schlagtrainings pitchen gesehen.
Im Rahmen der Feierlichkeiten vor dem Spiel hatte eine Reihe von Major-League-Stars ihre Fähigkeiten gegen Finchs Unterhandgranaten getestet. Finchs Würfe kommen aus einer Entfernung von 13 Metern und erreichen Geschwindigkeiten von annähernd 110 km/h. So benötigt der Ball ungefähr die gleiche Zeit bis zur Home Plate wie ein 150 km/h schneller Fastball vom 18 Meter entfernten regulären PitcherHügel. Ein solcher Fastball ist zwar schnell, aber für Profi-Baseballer auch Routine. Zudem ist ein Softball größer und sollte daher leichter zu treffen sein.
Trotzdem ließ Finch die Bälle mit jedem Windmühlenschwung ihres Armes an den verdutzten Männern vorbeisausen. Als Albert Pujols, der größte Batter einer ganzen Generation, beim Aufwärmtraining Finch gegenübertrat, drängten sich die anderen Starspieler gaffend um ihn herum. Nervös richtete Finch ihren Pferdeschwanz. Ein breites Lächeln huschte über ihr Gesicht. Freude durchströmte sie, aber auch die Sorge, dass Pujols ihren Wurf mit einem Line Drive erwidern könnte. Über seiner breiten Brust baumelte eine silberne Kette, seine Unterarme waren so breit wie der Kopf des Schlägers. »Na dann«, sagte Pujols leise und signalisierte damit seine Bereitschaft. Finch schwankte erst nach hinten, dann nach vorne und peitschte dabei den Wurfarm in weitem Bogen. Zunächst feuerte sie einen hohen Pitch ab. Bei dem Anblick taumelte Pujols erschrocken zurück. Finch kicherte.
Sie ließ einen weiteren Fastball folgen, der diesmal hoch und innenseitig ankam. Pujols wirbelte defensiv herum und drehte den Kopf weg. Hinter ihm lachten seine Kollegen laut auf. Pujols trat aus seiner Position heraus, fasste sich und nahm seinen Platz wieder ein. Er scharrte mit den Füßen, bis er sicher stand, und starrte Finch an. Der nächste Pitch ging ab durch die Mitte. Pujols wirbelte ihm einen mächtigen Schwung entgegen, aber der Ball segelte am Schläger vorbei und die Zuschauer johlten. Der nächste Wurf war weit außen und Pujols ließ ihn vorbeifliegen. Mit dem darauffolgenden erzielte Finch wieder einen Strike, während Pujols nur leere Luft traf. Für den verbleibenden Pitch rückte Pujols ganz nach hinten in die Batter’s Box und duckte sich tief. Finch schwang erst nach hinten, dann nach vorne und feuerte. Pujols schlug weit daneben. Er wandte sich ab und ging zu seinen kichernden Kameraden. Dann blieb er verwirrt stehen. Pujols wandte sich wieder Finch zu, zog vor ihr die Mütze und setzte seinen Weg fort. »So etwas will ich nie wieder erleben«, schwor er später.
Die Abwehrspieler hinter Finch hatten also gute Gründe, es sich auf dem Spielfeld bequem zu machen, sobald sie ins Spiel kam: Sie wussten, dass es keine Hits geben würde. Und wie beim Aufwärmtraining bezwang Finch die beiden Batter, gegen die sie antrat. Piazza schwang an drei schnurgeraden Würfen vorbei. Brian Giles, ein Outfielder der San Diego Padres, verfehlte den dritten Strike so sehr, dass ihn sein Schwung in eine Pirouette zog. Anschließend beschränkte sich Finch wieder auf ihre Rolle als Ehrencoach. Aber dies sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie Major Leaguer demütigte.
In den Jahren 2004 und 2005 trat Finch regelmäßig in einer Baseballsendung beim Fernsehsender Fox auf. In den Einspielern reiste sie zu den Trainingslagern der Major League und ließ die besten Baseballer der Welt wie Stümper aussehen. »Die Mädels treffen solche Bälle?«, staunte Mike Cameron, Outfielder der Seattle Mariners, nachdem er einen Pitch um eine gute Handbreit verfehlt hatte. Nachdem der siebenfach als bester Spieler ausgezeichnete Barry Bonds Finch beim All-Star-Spiel der Major League gesehen hatte, drängte er sich durch die Reporter, um sie in einen Trashtalk zu verwickeln.
»Also, Barry, wann krieg ich’s endlich mit dem Besten zu tun?«, fragte Finch. »Wann du willst«, antwortete Bonds zuversichtlich. »Du hast dich mit den ganzen Zwergen abgegeben … Jetzt musst du dich mal dem Besten stellen. Du siehst gut aus und hast es drauf, da kannst du doch keinen Mann abweisen, der auch gut aussieht und es drauf hat«, sagte Bonds, um sie gleichzeitig anzubaggern und einzuschüchtern. Dann riet er ihr noch, ein Schutznetz mitzubringen, falls sie sich an ihn herantraute, denn »das wirst du brauchen … Ich treffe nämlich«. »An meinen Ball ist bisher nur einer rangekommen«, erwiderte Finch. »Rangekommen?«, fragte Bonds lachend. »Wenn der Ball über die Plate kommt, dann komm ich ran, das kannst du mal glauben. Dann komm ich ran, aber wie.« »Meine Leute melden sich bei deinen Leuten und dann machen wir was aus«, sagte Finch. »Oh, das ist schon ausgemacht! Ruf einfach mich an, Mädchen«, sagte Bonds. »Ich nehme Herausforderungen gerne persönlich an … Wir senden das Ganze, im nationalen Fernsehen. Ich will, dass die Welt zusieht, dass alle es sehen.«
Also reiste Finch zu einem Treffen mit Bonds – diesmal ohne Fans und Reporter –, und sein spöttischer Ton verging ihm schnell. Bonds sah Pitch um Pitch vorbeisausen und bestand darauf, dass die Kameras ihn nicht aufnahmen. Finch schoss einen Pitch nach dem anderen an Bonds vorbei und seine anwesenden Teamkameraden deklarierten sie sämtlich als Strikes. »Der gilt aber als Ball!«, quengelte Bonds, worauf einer seiner Kameraden antwortete: »Barry, hier sind zwölf Schiedsrichter.« Bonds ließ Dutzende von Strikes an sich vorbeiziehen, ohne auch nur den Schläger zu schwingen. Erst als Finch ihm ankündigte, wie sie den Ball werfen würde, erwischte er einen läppischen Foul Ball, der ein paar Meter weit rollte und liegenblieb.
Bonds flehte Finch an: »Mach weiter, wirf noch einen.« Sie tat es – und schmiss an ihm vorbei. Als Finch in der Folge auf Alex Rodriguez traf, den amtierenden Spieler der Saison, schaute Rodriguez ihr über die Schulter, während sie sich mit einem Catcher aus seinem Team aufwärmte. Der Catcher vermasselte drei der ersten fünf Würfe. Als Rodriguez das sah, weigerte er sich zu Finchs Enttäuschung schlichtweg, die Batter’s Box zu betreten. Er beugte sich zu ihr und raunte ihr zu: »Mich macht man nicht zum Affen.«
Seit vier Jahrzehnten versuchen sich Wissenschaftler ein Bild davon zu machen, wie Spitzensportler schnelle Objekte treffen können. Eine intuitive Erklärung wäre, dass die Albert Pujolses und Roger Federers der Welt genetisch mit schnelleren Reflexen gesegnet sind und daher mehr Zeit haben, um auf den Ball zu reagieren. Allerdings stimmt das nicht.
Testet man Menschen auf ihre »einfache Reaktionszeit« – wie schnell sie auf ein Lichtsignal hin einen Knopf drücken können –, brauchen die meisten von ihnen, egal ob Lehrer, Anwalt oder Profisportler, ungefähr 200 Millisekunden oder eine fünftel Sekunde. Eine fünftel Sekunde entspricht in etwa der Mindestzeit, die eine Information braucht, um von der Netzhaut an der Rückwand des menschlichen Auges über zahlreiche Synapsen – den Lücken zwischen Nervenzellen, deren Querung jeweils einige Millisekunden dauert – zum primären visuellen Kortex im hinteren Teil des Gehirns zu gelangen und vom Gehirn aus als Signal ins Rückenmark übermittelt zu werden, von wo aus die Muskeln in Bewegung gesetzt werden. All dies geschieht so schnell wie ein Blinzeln. (Bei blendendem Licht dauert es schon 150 Millisekunden, bis die Augen zugekniffen werden.)
Aber so schnell eine Reaktionszeit von 200 Millisekunden auch ist, angesichts von 160-km/h-Würfen und 200-km/h-Tennis-Aufschlägen ist das viel zu langsam. Allein in den 75 Millisekunden, die die Sinneszellen in der Netzhaut benötigen, um einen Baseball im Sichtfeld wahrzunehmen und seine Flugbahn und Geschwindigkeit für die Weiterleitung ans Gehirn zu bestimmen, legt ein typischer Fastball im Profibaseball rund drei Meter zurück.
Der gesamte Flug des Baseballs von der Hand des Pitchers bis zur Plate dauert nur 400 Millisekunden. Und weil allein die Hälfte dieser Zeit für das Auslösen der Muskelaktion gebraucht wird, muss ein Batter in der Major League schon kurz, nachdem der Ball die Hand des Pitchers verlassen hat und lange bevor er überhaupt auf halbem Weg zur Plate ist, entscheiden, wohin der Schläger zu schwingen ist. Das Zeitfenster, in dem der Ball in Reichweite des Schlägers ist und überhaupt getroffen werden kann, misst 5 Millisekunden, und weil sich der Winkel, aus dem der Batter den Ball sieht, in Nähe der Plate so schnell ändert, ist der Ratschlag, den Ball im Auge zu behalten (keep your eye on the ball) buchstäblich unmöglich zu befolgen.
Das Sehorgan des Menschen ist einfach nicht schnell genug ist, um den Ball in seiner ganzen Bahn zu verfolgen. Ein Batter könnte daher genauso gut die Augen schließen, wenn der Ball auf halbem Weg zur Homeplate ist. Angesichts der Wurfgeschwindigkeit und unserer biologischen Grenzen ist es eigentlich ein Wunder, dass überhaupt jemand irgendwelche Bälle trifft. Dennoch erkennen und bewältigen Albert Pujols und seine All-Star-Kollegen 160-Sachen-Fastballs und verdienen damit sogar ihre Brötchen. Wieso verwandeln sie sich dann in Amateure, sobald sie mit 100 km/h lahmen Softballs konfrontiert werden? Der Grund ist, dass man einen Ball mit derart hoher Geschwindigkeit nur treffen kann, indem man in die Zukunft blickt, und wenn ein Baseball-Batter einer Softball-Pitcherin gegenübersteht, ist ihm der Blick in seine Kristallkugel verwehrt.
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David Epstein ist Journalist bei ProPublica.Er ist Autor von 2 Büchern, nämlich “Range: Why Generalists Triumph in a Specialized World (2019)”, “The Sports Gene: Inside the Science of Extraordinary Athletic Performance (2013)” beides Bestseller der New York Times. Vor ProPublica war Epstein als leitender Autor bei Sports Illustrated tätig, wo er sich auf wissenschaftliche Themen im Sport und investigative Berichterstattung spezialisierte. Alle Texte von David Epstein.