Jeder Mensch kann schnell und unvorbereitet von Schicksalsschlägen getroffen werden. Daraus kann schnell eine emotionale Abwärtsspirale entstehen.

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Normales Leben – was ist das?

Mein Leben verlief zunächst recht »normal«: Mama, Papa, jüngerer Bruder, das nette Einfamilienhaus in einer gepflegten Siedlung, in der die Kinder draußen vor den Häusern auf der Straße spielten. Meine Eltern bekamen mich kurz nach der Ausbildung, sprich: recht jung. Es folgte der Hausbau. Das klassische Familienkonzept, das sie selbst zu Hause vorgelebt bekommen hatten. Ob sie jemals miteinander glücklich waren? Ich weiß es nicht. Ob wir als Familie jemals glücklich waren? Ich weiß es nicht. Meine Mutter, die anfangs eigentlich einen anderen Mann in ihrem Herzen hatte, mein Vater, der früh spürte, dass sie nicht die »Richtige« für ihn war. Und dann kam ich!

Meine Eltern arrangierten sich mit der Situation, kauften das Grundstück in der schönen Einfamilienhaussiedlung, bauten das Haus. Wir lebten Familie. Der Vater, der das Geld verdient, und die Mutter, die sich zu Hause um den Haushalt und die Kinder kümmert – das war die Idee. Nur war die Mutterrolle nicht die Rolle, die meine Mutter erfüllte, das Familienmodell nicht das Modell, das sie glücklich machte. Deshalb suchte sie für mich einen Kindergartenplatz mit Ganztagsbetreuung. Das hieß: Um 7:30 Uhr sammelte mich der Kindergartenbus zu Hause auf, um 17 Uhr lieferte er mich wieder ab. Praktisch.

Wenn Zuwendung fehlt

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Aber das Gefühl, nach einem Tag im Kindergarten aufgeregt mit roten Wangen und zerzausten Haaren nach draußen zu rennen, wo Mama wartet, die mich in den Arm nimmt und sich auf dem Heimweg die Erlebnisse des Tages anhört, das lernte ich nicht kennen. Als ich vier Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Er komplementierte nach außen hin das schöne Familienbild. Großer Garten, die Beete hübsch gemacht, die Hecke gestutzt. Tolle Familienurlaube, nette Familienfeste. Man muss ja zeigen, was man hat … Nach außen hin machten wir bestimmt einen glücklichen Eindruck. Ja, das Außen, das, was andere über sie – über uns – denken, war meiner Mutter immer recht wichtig. Stets darauf bedacht, was andere denken könnten.

So war das auch, wenn sie mich nachmittags mit zu Kaffee und Kuchen zu ihren Freundinnen nahm. Auf der Rückfahrt zählte sie mir jedes Mal auf, wo ich mich nicht »passend« verhalten hätte. Ich hätte zu wenig mit den anderen Kindern gespielt, den Erwachsenen am Rockzipfel gehangen und zu viel Kuchen gegessen, sei zu gierig gewesen, hätte nicht gerade gesessen, sei zu vorlaut gewesen und nicht dankbar genug. Sie würde sich für mich schämen. Wieder und wieder musste ich mir diese Vorwürfe auf den Fahrten nach Hause anhören. Ich fürchtete sie, wusste, sobald der Motor startete, würde sie damit anfangen und so schnell auch nicht verstummen. Die Kinder ihrer Freundinnen waren dagegen immer ganz besonders toll.

Was andere denken könnten – wenn die Angst wichtiger ist als die eigenen Gefühle

Genau dieses Was-andere-von-mir-denken-Könnten, gepaart mit der Angst, negativ bewertet zu werden, wird später noch eine ganz zentrale Bedeutung in meinem Leben spielen. Mit der Geburt meines Bruders wuchs die Überforderung meiner Mutter. Plötzlich waren da zwei Kinder. Zwei Kinder, für die fehlten ihr einfach die Nerven. So lief ich irgendwie nebenher, wurde nicht wirklich gesehen, es hieß: »Sarah, die macht das schon, ihr Bruder ist ja noch so klein.« Ja, ich machte es schon. Ich lernte, Sachen zu tun, die in meinem Alter nicht üblich waren, und ich lernte, sie besonders gut zu machen, um gesehen zu werden, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ich übernahm, weil das funktionierte, immer mehr Aufgaben, immer mehr Verantwortung, und wurde sehr früh sehr eigenständig. Zu früh. So bekam ich Lob, Zuwendung und Liebe – die Liebe, die ich so vermisste. Ich verknüpfte Liebe mit Leistung und mit Perfektion. Passte immer häufiger auf meinen Bruder auf, während meine Mutter unterwegs war. Sie suchte ständig nach Möglichkeiten, in denen sie einfach nur eine junge Frau sein konnte. Ob sie nun mit Freundinnen ausging, auf Schönheitsfarmen fuhr oder mit dem Kegelklub unterwegs war – sie fand genügend Gründe, nicht zu Hause sein zu müssen.

Neid, Missgunst, Eifersucht als vorherrschende Emotion

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Die Konsequenz: Ich war sehr weit für mein Alter und hatte kein Interesse an Gleichaltrigen. Auch deshalb, weil ich im Kontakt mit anderen Kindern zunehmend die Gefühle empfand, die ich bereits von zu Hause kannte und die mit meiner Geschwisterrolle zu tun hatten. Missgunst, Neid, vielleicht sogar Eifersucht auf andere Kinder. Ich wollte auch unter ihnen die Beste sein. Wann immer ich mit Gleichaltrigen zusammen war, bedeutete es für mich, in einem Wettbewerb zu sein. Andere Kinder merkten das, wollten nicht mit mir spielen. Sie mieden mich. Mein Gefühl der Andersartigkeit, des Ausgegrenzt-Werdens, des Nicht-gut-genug-Seins verstärkte sich. Ich, der Fremdkörper, der Fremdkörper, der nirgendwo reinpasst?

Für Gleichaltrige zu alt, für Erwachsene zu jung. Dieses Empfinden, dass irgendetwas anders an mir ist, die Unsicherheit, die ich unter Menschen spürte, das Gefühl, nicht dazu zu gehören, nirgends richtig reinzupassen, aber auch nicht reingehören zu wollen – all das wird sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen, ähnlich wie die Tatsache, Sachen nicht nur gut machen zu wollen, sondern möglichst perfekt, um gesehen zu werden. Um Anerkennung und Liebe zu bekommen. Ich empfand meine Mutter als emotional abwesend, spürte ihre Unzufriedenheit. Vielleicht war das der Grund, warum ich nie eine Bindung zu ihr aufgebaut habe?

Auf der Suche nach Herzlichkeit

Mit sieben Jahren backte ich ihr zum Muttertag meinen ersten Kuchen, mit einer Backmischung, aber immerhin. Ich war so stolz und gestaltete den kleinen runden Fernsehbeistelltisch kurzerhand zum Geschenketisch um. Ich schmückte ihn mit einer bunten Decke, massig rosa Streuglitzer und Schokoherzen. Ich hatte alles ganz genau geplant. Auf diesen wundervoll geschmückten Tisch stellte ich meinen Kuchen und Geschenke: Ich hatte ihr viele Bilder gemalt und Mandalas gebastelt. Ganz aufgeregt stand ich an diesem Sonntagmorgen davor und freute mich auf ihre glänzenden Augen. Sie betrat den Raum und reagierte völlig nüchtern.

Sie gab sich zwar Mühe, Freude zu zeigen, aber es fühlte sich nicht ehrlich an. Ich spürte einfach keine Wärme, keine glücklichen Muttergefühle und keine Herzlichkeit – die glänzenden Augen vermisste ich sowieso. Ich hatte auch den Frühstückstisch gedeckt, und beim anschließenden gemeinsamen Essen nahm sie nur eine kleine Gabel von meinem Kuchen. »Schmeckt er dir nicht?«, fragte ich. »Doch, doch Mäuschen. Aber er ist schon eine echte Kalorienbombe.« Den restlichen Kuchen aß ich in den nächsten Tagen selbst. Die vielen Bilder, die ich ihr gemalt hatte, klebte sie nicht wie andere Mütter an den Kühlschrank oder rahmte sie ein, ich fand sie später im Papierkorb. Oder sie verwahrte sie in einer Kiste auf dem Speicher.

Auch Helden können vom Sockel fallen

Ich orientierte mich daher zunehmend an meinen Vater. Er war zwar nicht oft zu Hause, arbeitete viel, aber die Zeit, in der er da war, genoss ich in vollen Zügen. An den Wochenenden begleitete ich ihn zu geschäftlichen Terminen. Wie eine Prinzessin saß ich auf dem Beifahrersitz neben ihm im Cabrio oder unternahm mit ihm eine Motorradtour. Manchmal gingen wir auch einfach nur ein Eis essen oder auf den Rummel. Ich war so glücklich! Ich, das Papa-Kind. Papa war mein Held. Da wusste ich noch nicht, dass sich das sehr bald ändern würde. Dass auch Helden vom Sockel stürzen können.

So lebten wir also. Zusammen und irgendwie aneinander vorbei. Trost und aufmunternde Worte bei einem aufgeschlagenen Knie? Nähe und Umarmungen beim ersten Liebeskummer? Gemeinsames Rumalbern, sich gegenseitig vom Tag erzählen? Ich habe keine einzige Kindheitserinnerung, in der wir gemeinsam um einen Tisch sitzen und zusammen malen oder mir jemand etwas vorliest. Gefühle wie Nähe und Geborgenheit lernte ich nicht kennen. Perfektion und Leistung spielten auch in Bezug auf das Aussehen und das Gewicht eine große Rolle. Mit meiner Einschulung, also so mit sechs Jahren, begann ich zuzunehmen. Ich war zunächst kein dickes Kind, sondern hatte lediglich ein bisschen Babyspeck. Meine Mutter war gertenschlank, mein Vater hatte schon immer mit seinem Gewicht zu kämpfen gehabt – das wollte er mir ersparen. So erklärte er Abnehmen zu einem Gemeinschaftsprojekt von Vater und Tochter.

Emotionales Essen und Jo-Jo-Effekt

An einem Freitagabend – das war immer unser Fernsehabend, mein absolutes Highlight in der Woche – saßen wir zu zweit am Küchentisch und mein Vater erklärte mir, er habe sich etwas überlegt. »Heute Abend hauen wir noch mal so richtig rein, ab morgen machen wir dann eine Diät.« Mein Vater, der Süßigkeiten liebte, brauchte für seine Diätphasen einen partner in crime, einen Komplizen, und der war also ich. Sein Plan: Am Wochenende geht’s auf die Waage, und sobald ich zwei Kilo los bin, darf ich mir was wünschen. Ich hatte zwar absolut keine Lust, mit ihm zu joggen oder ihn auf dem Fahrrad zu begleiten, wenn er joggte, aber ich zog mit, das war schließlich unser Projekt, zumal ich auch keine andere Wahl hatte …

Zum Glück hielt mein Vater die Diäten nie auf Dauer durch, und jede Pause war eine Erlösung für mich. Bis die nächste Abnehmphase kam und es von vorne losging. Die Folge? Klar, der Jo-Jo-Effekt. Durch die ständige Kontrolle und die ewigen Verbote übten Süßigkeiten einen großen Reiz auf mich aus; ich naschte heimlich. Letztendlich wurde ich mit jeder Diät übergewichtiger. Essen, Übergewicht, Abnehmen, Zunehmen – all das wird von diesem Zeitpunkt an eine weitere zentrale Rolle in meinem Leben spielen. In der Schule wurde ich ebenfalls nie wirklich Teil der Gemeinschaft, ich tat mich schwer damit, feste Beziehungen aufzubauen. Mobbing? Gehörte vielleicht dazu. Ich hatte eine fürchterliche Jungsfrisur, mit der ich rumrennen musste, dazu wurde ich immer übergewichtiger. Beliebt war ich nicht. Ich war die, die im Sport bei Gruppenaufteilungen jedes Mal zuletzt aufgerufen wurde. Über die gelästert wurde. Mit der sich auf der Klassenfahrt keiner gern das Zimmer teilte.

Plötzlich Scheidungskind

Dann trennten sich meine Eltern. Ich bekam mehr und mehr mit, wie für meinen Vater eine Welt zusammenbrach, wie er litt. Aus der Traum von Haus, Kindern und Hund, von der heilen Familie! So hatte er sich das nicht vorgestellt. Irgendwann zog er aus. Für ein paar Monate lebten wir zu dritt in dem Haus, meine Mutter, mein Bruder und ich. Meine Mutter war völlig überfordert mit dem Haus, in dem wir vorher Familie gespielt hatten, mit den Erinnerungen und ihren zwei Kindern, um die sie sich kümmern sollte.

Unser Verhältnis war unterkühlt. Sie glänzte durch emotionale Abwesenheit und war auch physisch so oft wie möglich unterwegs – eigentlich nur noch. Es war sogar so, als ich mit einer vereiterten OP-Wunde und 40 Grad Fieber auf unserer schönen Ledercouch im Wohnzimmer vor dem Fernseher lag. Wenige Tage zuvor waren mir ambulant alle vier Weisheitszähne gezogen worden. Meine Mutter hatte mich morgens zum Zahnarzt gefahren und mich im Anschluss wieder abgeholt. Suppe, Tee und Trost gab es im Anschluss nicht.

Wenn die Fürsorge fehlt

Meine Mutter war nun mal keine Mutter, die Hühnersuppe kocht. Ich spürte, wie die Wunde links oben mehr und mehr schmerzte, heiß wurde und anfing zu pochen. Es war ein Freitag, und zum Abend hin wurde es immer schlimmer. »Mäuschen, das ist nicht so schlimm«, sagte sie. »Du gehst am Montag zum Zahnarzt, ich bin gleich verabredet.« Sie ließ mich allein und ging an diesem Abend feiern.

Mein Vater rief an und erkundigte sich, wie es mir ging, ich erzählte ihm von meinen starken Schmerzen und dem Fieber. Er kam sofort vorbei und fuhr mit mir zum Notdienst – die Wunde hatte sich stark entzündet und musste aufgeschnitten werden. Letztendlich funktionierte dieses Konzept für uns alle nicht, und so einigten sich meine Eltern darauf, dass mein Bruder und ich bei meinem Vater leben sollten. Daraufhin zog meine Mutter aus. Das Sorgerecht gab sie gleich mit ab, so konnte sie endlich ihr Leben leben. Lebte von da an ihr glückliches Single-Leben.

Die neue Stiefmutter: Wie Cinderella

Die neue Frau meines Vaters und ich, wir beide machten uns das Leben richtig schwer. Ich hatte das Gefühl, dass sie die Nummer eins für meinen Vater sein wollte und einen Keil zwischen uns trieb. Ständig gab es Provokationen, Lügen, Eifersüchteleien. Es war fürchterlich anstrengend, immer und immer wieder dagegen anzukämpfen! Kam ich von der Schule nach Hause, lagen auf der Arbeitsplatte To-do-Zettel für mich. Ich sollte das ganze Haus saugen, Wäsche wegräumen, auf ihren Sohn aufpassen … Ständig auf ihren Sohn aufpassen.

Das passte mir natürlich gar nicht! Ich war ein vierzehnjähriger Teenager und hatte andere Sachen im Kopf. Fing an zu rebellieren! Die Zettel beachtete ich nicht, darauf folgte Hausarrest. »Du hast mir gar nichts zu sagen, du bist nicht meine Mutter!«, wurde zu einem Standardsatz. Das Prinzip war sehr einfach, denn auf jede Aktion folgte eine Reaktion. Ich durfte immer weniger – und umso weniger ich durfte, desto trotziger wurde ich. Umso mehr ich michwidersetzte und mein eigenes Ding machte, umso explosiver und kälter wurde die Stimmung zwischen ihr und mir.

Zwischen allen Stühlen

Mein Vater stand zwischen den Stühlen und hatte nach einem anstrengenden Arbeitstag keine Lust auf unsere Spielchen, weshalb er sich prinzipiell auf ihre Seite stellte. Was aber wäre die Alternative meines Vaters gewesen? Alleinerziehender Vater zu sein? Ich hatte das Gefühl, dass ihm die Vorstellung Angst machte. Sein Verhalten und dass er ihr prinzipiell mehr glaubte als mir – seiner eigenen Tochter – verletzte mich sehr. Es tat weh zu sehen, dass die neue Frau, die er gerade mal wenige Monate kannte, einen größeren Stellenwert bekam als die eigenen Kinder. Nicht nur der Frau, auch ihrem kleinen Sohn wurde alles recht gemacht. Als Tochter fallen gelassen zu werden für die neue Lebensgefährtin, das tut weh.

Was stimmt mit mir nicht? Bin ich nicht liebenswert? Je mehr ich mich abgelehnt fühlte, desto mehr ging ich mit dem Kopf durch die Wand. Kostete es, was es wolle. Heimlich feierte ich Partys zu Hause, wenn mein Vater und seine Frau nicht da waren. »Sturmfrei«, das war das Schlüsselwort. Ich ließ es bei den älteren Jungs in der Gegend fallen – und abends standen die Typen mit Whiskeyflaschen vor unserer Tür. So artete das Ganze in eine wilde Party in unserem Saunabereich im Keller aus, bis die Tür aufging und mein Vater im Raum stand. Auch wenn ich den ganzen Abend nur damit beschäftigt war aufzupassen, dass es nicht ausartete, war mein Vater alles andere als erfreut … Ein Diebstahl im Drogeriemarkt zählt ebenfalls zu meinen Jugendsünden.

Emotionale Angriffsfläche

Der Höhepunkt war wohl die Alkoholvergiftung an Silvester – mit vierzehn. Meine Freundin und ich haben uns mit gefälschten Ausweisen auf eine Party geschmuggelt, und von dort ging es direkt ins Krankenhaus, nachdem ich zu viel Alkohol getrunken und versehentlich Gras geraucht hatte. Happy New Year! Mein Vater war nicht gerade in Neujahrsstimmung, als er Silvester im Krankenhaus antanzen durfte. Ich erinnere mich noch, wie ich auf diesem Bett im Krankenhausflur aufwachte, die Augen öffnete, blinzelte und dabei von den hellen Neonstrahlern geblendet wurde. Ich musste mich sortierten – mir selbst war nicht bewusst, wo ich mich gerade befand, wusste nur noch, wie ich ohnmächtig auf der Party zusammenklappte. Im Hintergrund hörte ich die Stimme meines Vaters: »So nehme ich die nicht mit nach Hause.« Er hatte mit einem Arzt gesprochen.

Durch mein aufsässiges Verhalten machte ich es seiner neuen Frau natürlich sehr leicht: Ich bot ihr viel Angriffsfläche und machte mich selbst zum schwarzen Schaf. Diplomatie? Nicht meine Stärke. Ich spürte, wie ich dadurch den Zugang zu meinem Vater verlor, meine Worte nicht mehr zu ihm durchdrangen und wie wir uns dabei immer weiter voneinander entfernten, uns verloren. Ich spürte es! Und viel schlimmer, ich spürte, dass ich den Prozess nicht aufhalten konnte. Ich versuchte es, unzählige Male, in unzähligen Gesprächen.

Hilflos und alleine

Doch gegen die neue Frau kam ich nicht an. Ich fühlte mich hilflos und allein. So eskalierte es mehr und mehr. Tagsüber knallten die Türen, Räume wurden abgesperrt, ich wurde eingesperrt; ich fluchte, ich wurde beschimpft. Die Patchworkfamilien-Blase meines Vaters drohte zu platzen. Er wurde zunehmend hilfloser und gereizter, lauter und cholerischer. Auch zwischen seiner Frau und ihm gab es immer öfter Streit, sie schoben es grundsätzlich auf mich. Machten mich zum Feindbild, das schweißte sie zusammen. Eines Abends kam mein Vater heim, und ich hörte von oben, wie seine Frau ihm mal wieder etwas erzählte. Sie klang hysterisch und wütend, heulte. Ich hatte heimlich ihre Kosmetiksachen benutzt. Das verschlimmerte die Situation erheblich und ich Vertraute mich einer Lehrerin an.

Ich wollt mir nicht vorstellen, was mein Vater gemacht hätte, hätte er davon erfahren, dass ich mich jemandem anvertraute, dass ich mit einer Lehrerin über unsere Situation gesprochen hatte. Besser nicht darüber nachdenken! Ich überredete sie, nichts zu unternehmen, sagte, ich würde alles abstreiten, sollte es jemand ansprechen – so groß war die Panik vor meinem Vater. Aber es tat mir gut, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Mit jemandem, der mir glaubte. Das war nicht selbstverständlich, schließlich waren wir nach außen hin die heile Patchworkfamilie mit dem schönen Haus und den dicken Autos. Eines Tages konnte ich aber nicht mehr, ich war psychisch am Ende. Ich weinte mich wieder bei meiner Lehrerin aus. Außer ihr wussten noch meine beste Freundin und deren Eltern Bescheid. Ich hatte mittlerweile solche Angst, nach Hause zu gehen, dass meine Lehrerin nach einer Lösung suchte. Sie telefonierte mit der Mutter meiner besten Freundin, und sie vereinbarten, dass mich die Mutter erst einmal abholen sollte. Dann würden sie weiter überlegen.

Körperliche Gewalt

Die Mutter meiner Freundin holte mich ab, und ich wusste in dem Moment, dass ich diesen Schritt nicht mehr rückgängig machen konnte. Ich hatte Angst, dass das furchtbar enden könnte, aber ich war neben all der Angst auch wahnsinnig erleichtert, nicht nach Hause zu müssen. Wir fuhren in ein Restaurant, und die Stimmung war mehr als angespannt. Die Mutter meiner Freundin hatte ebenfalls Angst, schließlich machte sie sich strafbar, weil sie mich einfach mitgenommen hatten. Was, wenn mein Vater sie nun anzeigen würde? Ich fühlte mich schuldig, weil ich diese Familie mit in meine Misere reingezogen hatte, aber was sollte ich machen? Der Vater meiner Freundin erschien später und beschloss, dass er zunächst einmal mit mir gemeinsam zu mir nach Hause fahren würde, um dort mit meinem Vater zu sprechen. Er versprach mir, mich nicht allein zu lassen. Er meinte es gut, er war aber auch naiv, denn er glaubte, er könnte vermitteln und mir so helfen.

Es kam, wie es kommen musste. Mit zornigem Gesicht öffnete mein Vater die Tür, und ich wusste sofort: Das war‘s! Er ließ den Vater meiner Freundin nicht mal zu Wort kommen, geschweige denn ins Haus. Er machte ihm eine einschüchternde, sehr sachliche Ansage, und anhand der Tonlage war mir klar, dass das für mich böse enden würde. Es endete böse … In der Folge ließ er seine Wut noch öfter an mir aus und wurde dabei immer skrupelloser. So verpasste er mir, nachdem er mich nach meinem Ladendiebstahl bei den Kaufhausdetektiven abholen musste, auf einer Straße in der Innenstadt mehrere Ohrfeigen, bis meine Nase blutete. Mit blutverschmiertem Oberteil zerrte er mich zu seinem Auto. Keiner der Umstehenden reagierte.

So entsteht das Gefühl von Hilflosigkeit

Generell machte ich die Erfahrung, dass mir niemand half. Auch nicht die wenigen Menschen, die von meinem Leid wussten. Alle waren mit der Situation und mit meinem Vater überfordert. Es war mein Lieblingsoberteil, ein hellblaues T-Shirt mit einer großen weißen Blüte, das dem Ausraster meines Vaters zum Opfer fiel. Ich versuchte verzweifelt, die Blutflecken herauszuwaschen, dabei liefen mir unaufhörlich die Tränen übers Gesicht. Ich weinte um mein Lieblingsshirt, und ich weinte wegen des Gefühls, nicht mehr weiter zu wissen. Dennoch: Brechen lassen wollte ich mich nicht von meinem Vater. Und so fühlte ich zugleich, wie ich mit jedem Schlag stärker wurde. Ich lernte, meine Gefühle auszublenden. Meine Erziehung erschien nur noch darauf aus zu sein, meinen Willen zu beugen.

Einen Grund gab es immer, irgendetwas hatte ich schon angestellt. Der Höhepunkt: Mein Vater riss mir sämtliche Kleidung vom Leib, stellte mich im Keller in den Duschbereich unserer Sauna und spritzte mich mit dem Kaltwasserschlauch ab. Eisig kaltes Wasser prallte auf meinen Körper. Ich weiß nicht, wie lange. Mein Zeitgefühl ging verloren. Vor Erschöpfung brach ich schließlich zusammen. Er hörte nicht auf. Ich lag bibbernd vor ihm, fühlte mich so nackt, so hilflos, so verletzlich und auf mich allein gestellt. Und doch beherrschte mich der Gedanke: Du brichst mich nicht, nicht du, nicht hier! Niemals! Ich spürte auch in dieser Situation, wie ich mit jeder Sekunde innerlich stärker wurde. Er wollte mich brechen. Schaffte es aber nicht! So ging es über Monate, nur die Situation in der Sauna wiederholte sich nicht. Die anderen schon. Nach außen hin konnte man sich an der hübsch gestutzten Hecke vor unserem Haus erfreuen, nach außen hin gab sich mein Vater als äußerst sympathischer und charismatischer Mann. Nach innen aber war er: ein Tyrann. Gewalt und Psychoterror, das erlebte ich weiterhin täglich. Diese Erniedrigung war schrecklich.


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